Unterwegs im Grünen
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Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich …

Die Work-Life-Balance finden im Zeitalter der Beschleunigung
 
Publiziert: 17.03.2017

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Von Helena Gysin

Keine Zeit: zum Träumen, für Sport, zum Durchatmen, für den Kunden, zum Sterben, für sich, für Freunde, für einen Kurs, für Erholung, für Liebe, zum Kochen – die Liste lässt sich unendlich lang fortsetzen. Wir haben ein rasantes Lebenstempo angeschlagen. Wir packen immer mehr in unsere Tage und spüren, dass «Entschleunigung» die Lösung wäre – doch die Bremse zu ziehen ist schwerer als angenommen.

Sechs Minuten später als geplant verlässt Sibylle um 17.12 Uhr das Büro. Mit zügigen Schritten geht sie Richtung Hauptbahnhof. Das Halstuch versucht sie im Gehen ein weiteres Mal um den Hals zu schlingen, während sie noch einen kurzen Blick auf ihr Smartphone in der linken Hand wirft. Stimmt! – Karin hat schon vor einer Stunde nachgefragt, ob es denn heute mit dem Kuchen für die Kleingruppe klappe. Ja, tut es! Geht ja glatt mit dem Einkauf für das Abendessen. Sibylle hetzt in einen Shop im Bahnhof. Die Einkaufsliste hat sie während des Zähneputzens auf ihrem Handy abgespeichert: Salat – gewaschen/servierbereit; Kartoffelgratin – lose gefroren/bequem portionierbar; Rindsplätzli à la minute, 1 Dose Pelati gehackt und dann noch «Grosis Schokoladekuchen» für die Kleingruppe. Fünf Meter vor dem Ausgang die matchentscheidende Frage: Selbstcheckout oder doch lieber die freiwerdende Kasse benutzen?

Ein weiterer Blick aufs Handy zeigt Sibylle, dass sie den angepeilten Zug mit ein wenig Glück doch noch erreicht. Dort bleibt genügend Zeit, um Karin zu antworten, die privaten Mails zu checken und die Garage anzurufen, um den Termin für den längst fälligen Service zu vereinbaren. Der Schrittzähler zeigt, dass die 10 000 Schritte noch nicht erreicht sind. Darum doch vielleicht zu Fuss vom Zielort nach Hause? Briefkasten leeren. Huch, was will das Steueramt? – Diese Frage muss noch im Treppenhaus geklärt werden. Die Zeit drängt! Tasche auspacken, Mikrowellenteller vom Mittag in die Abwaschmaschine und während der Gratin im Ofen gart, kann Sibylle noch 2000 Schritte auf dem Trampolin nachholen …

Vergleichen wir unser Leben mit dem unserer Grosseltern, dann müssten wir eigentlich durch den technischen Fortschritt einen enormen Zeitgewinn verbuchen können. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die technischen Errungenschaften der letzten Jahre bescheren uns nichts als Zeitnot. Arbeiteten in der Schweiz um 1900 die meisten Arbeitnehmer wöchentlich 60 Stunden an sechs Tagen pro Woche, so sind es heute noch 42 Stunden an fünf Tagen. Die Arbeitszeiten haben sich zwar drastisch verkürzt, aber am Ende des Tages bleiben keine Stunden für Musse übrig. Soziale Kontakte, Sport, Erholung: Alles muss minutiös in unserem streng getakteten Alltag geplant werden, um irgendwo einen Platz zu finden.

Zeit ist Geld
Der deutsche Soziologe, Politikwissenschaftler und Beschleunigungsforscher Hartmut Rosa hat sich eingehend mit diesen Phänomenen auseinandergesetzt und kommt zum Schluss: «Beschleunigung hat nichts mit der Dauer der Arbeitszeit zu tun. Was sich steigert, ist die Zahl der Handlungsepisoden pro Zeiteinheit. Wir versuchen, immer mehr an einem Tag zu tun.» Weiter sagt er: «Viele Menschen könnten sich in zeitlicher Hinsicht für bankrott erklären.» Unsere Tage sind effektiv nicht kürzer geworden, noch immer stehen uns täglich 24 Einheiten à 60 Minuten zur Verfügung. Dennoch ist Zeit in unserem Jahrhundert zu einer harten Währung geworden. Irgendwie haben wir uns in eine unheimliche Spirale verwickelt: Je produktiver wir werden, je mehr wir in einer Stunde erledigen können, umso mehr steigt der Druck auch auf jene Stunden, in denen wir nicht arbeiten. Wir wissen zwar, dass Pausen, Sport und Musse wichtig sind, um aufzutanken und unser Leben in einer guten Balance zu halten. Aber unsere Erwartungen an die Freizeit sind im selben Mass gestiegen wie der Druck an unseren Arbeitsplätzen. Sogar in unserer Freizeit setzen wir uns Ziele. So wird die von langer Hand geplante Wanderung nur zu einem abgehakten Punkt auf der To-Do-Liste statt zum entspannten Erlebnis in der Natur. Zudem muss sie ja auch noch für Freunde auf Facebook und über WhatsApp dokumentiert werden.

Wenn Sibylle, die wir eingangs kennengelernt haben, täglich mit diesem rasanten Tempo, unter solchem Druck unterwegs ist, werden sich bei ihr mit der Zeit diverse Symptome zeigen. Oder anders ausgedrückt: Wer dauernd auf dem Gas steht, muss sich nicht verwundern, wenn er sein Lebensauto an die Wand fährt. Der Körper reagiert mit Herz-Kreislauf-Beschwerden, Kopfschmerzen, häufigen Erkältungen, Sodbrennen. Eine weitere Folge können Schlafstörungen, Antriebslosigkeit, sexuelle Probleme, aber auch Rastlosigkeit sein. Manche Menschen beobachten Denkblockaden, die Unfähigkeit sich zu konzentrieren kann in eine allgemeine Zerstreutheit münden. Wer diese Anzeichen ignoriert, wird immer reizbarer, lustloser und unzufriedener, im schlimmsten Fall entwickelt sich ein diffuses Deprimiert-Sein in eine Depression.

Mach mal Pause!
In Frankreich werden Arbeitnehmer seit Neustem durch ein Gesetz davor geschützt, dass sie auch nach Feierabend und am Wochenende für den Arbeitgeber erreichbar sein müssen. Warum ist so etwas nötig geworden? Die Sklaverei wurde vor Langem abgeschafft und in den letzten Jahren neu erfunden – sozusagen digital. Menschen von heute leben selbstbestimmt, aber was digitale Auszeiten betrifft, haben sich viele in neue Abhängigkeiten verstrickt. Die meisten sind sich bewusst, dass die ständige Erreichbarkeit mit ein Grund für Stress und Burnout ist. Hartmut Rosa stellt folgende Diagnose: «Mir scheint, wir verhalten uns ein wenig wie Suchtkranke: Wir suchen immer nach dem nächsten Kick. Und wenn es uns an Feiertagen einmal gelingt, aus dem täglichen Hamsterrad der andrängenden Optionen auszusteigen, haben wir plötzlich Entzugserscheinungen.»

Ich bin in einem Dorf im Emmental aufgewachsen. Dort begegnete man in meiner Kindheit abends nach dem Abendessen noch Paaren, die vor dem Haus auf dem «Fyrabe- Bänkli» sassen. Die Männer nutzten die Zeit manchmal, um eine Tabakpfeife zu rauchen und die Frauen strickten – manche waren einfach da, tauschten aus oder schwiegen sich an. Wer kennt heute noch dieses Gefühl, dass das Tagewerk jetzt abgeschlossen ist?

Die ständige Erreichbarkeit nimmt uns gefangen. Jederzeit könnte noch eine wichtige Mail im Postfach liegen. Für viele schwingt zudem die Angst vor einem Arbeitsplatzverlust mit, wenn sie sich denn ausklinken würden. Die Sehnsucht der Menschen aus diesem Hamsterrad auszusteigen scheint in gewissen Kreisen immer grösser zu werden. In diesem Zusammenhang begegnen wir dem Wort «Downshifting ». Dieser Begriff meint das bewusste Herunterschalten im Beruf, die Reduktion der Arbeitszeit und damit auch der bewusste Verzicht auf einen Teil des Einkommens oder auf den nächsten Karriereschritt. Die Hoffnung keimt auf, dass weniger mehr sein könnte. Weniger Stress, mehr Lebensqualität. Doch das ist nicht jeder Einkommensschicht so ohne weiteres möglich, die Fixkosten sind gerade für Familien hoch. Es gibt aber auch den Weg der kleinen Schritte, der bescheidenen Korrekturen: eine kurze Unterbrechung des Arbeitsalltags, eine kleine (sportliche) Pause, der bewusste Feierabend nach getaner Arbeit, der Verzicht auf dauernde Erreichbarkeit, Aktivitäten mit Freunden oder das Wiederentdecken der Natur vor der Haustüre.

Vom Ende her denken
In seinem Roman «Der Mann ohne Eigenschaften » schreibt Robert Musil: «Sie litten alle unter der Angst, keine Zeit für alles zu haben, und wussten nicht, dass Zeit haben nichts anderes heisst, als keine Zeit für alles zu haben.» Mit diesem Satz macht Musil deutlich, dass die uns zur Verfügung stehende Zeit begrenzt ist und dass wir darum in unserem Leben immer eine Auswahl treffen müssen. Keiner kann alles, keiner hat Zeit für alles! Wenn wir aber ab und zu innehalten und uns bewusst machen, dass unsere Zeit begrenzt ist, kann das unser Leben und unseren Umgang mit der Zeit ziemlich auf den Kopf stellen. Niemand garantiert uns nämlich, dass wir das durchschnittliche Todesalter von 82,9 Jahren wirklich erreichen. Und wenn es auch so wäre, vielleicht bleiben immer noch Dinge übrig, die wir gerne erlebt, erfahren, besucht, bereist, gelesen hätten. Im mittelalterlichen Mönchslatein finden wir den Ausdruck: Memento mori – denke ans Sterben. Wir Menschen von heute haben die Endlichkeit des Lebens, den Tod aus unseren Gedanken verdrängt, aus unserem Leben ausgeklammert. Memento mori – ans Ende denken – vielleicht sollten wir uns genau darin üben. Im Angesicht des Todes wird nämlich vieles relativiert: Zeit, Besitz, Prioritäten. Beim Blick aufs Wesentliche kehrt Gelassenheit ein, Nebensächlichkeiten werden ausgeblendet – die «alltäglichen» Glücksmomente erscheinen auf dem Radar.

Die Australierin Bronnie Ware hat das Buch «5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen» geschrieben. Acht Jahre lang hat sie Menschen auf einer Palliativabteilung in den letzten Wochen ihres Lebens begleitet. In ihren Gesprächen hat sie erfahren, dass es nicht die verpassten Weltreisen sind, die oben auf der «Hätte-ich-doch-Liste» standen, sondern Dinge wie «Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.» oder «Ich wünschte mir, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhalten.» oder «Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.» Vielleicht müssen wir uns diese Einsichten zu Herzen nehmen und unser Leben hier und jetzt vom Ende her betrachten. Was ist mir wichtig? Und wie möchte ich, dass die Menschen in meinem Umfeld mich und mein Leben in Erinnerung behalten? Schon Mose betete: «HERR, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden» (Psalm 90,12).

Auf dem Sterbebett ist es reichlich spät und müssig, darüber nachzudenken, was man anders hätte machen sollen, wollen, müssen. Darum streichen Sie den Konjunktiv am besten heute aus Ihrer Alltagssprache. Heute ist der erste Tag vom Rest des Lebens. Vergessen Sie die Sätze: «Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich langsamer leben, häufiger stehen bleiben, mehr Zeit mit Freunden verbringen und das, was ich sehe und erlebe, länger geniessen.» Tun Sie es: Bleiben Sie stehen, geniessen Sie den Augenblick. Und vor allem: Tun Sie nichts, nur um anderen zu gefallen oder weil Sie Angst vor deren Reaktion haben. Verbringen Sie Zeit mit der Familie, mit Freunden, gerade dann, wenn Sie meinen, keine Zeit dafür zu haben, dann, wenn die Arbeit Sie fast auffrisst. Alles andere könnten Sie später bereuen.

© Online-Redaktion ERF Medien
 
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