Carlos Martinez
(c) zVg

Von einem Mann, der plötzlich wieder sprechen kann

Der Pantomime Carlos Martinez hat etwas zu sagen.
 
Publiziert: 22.05.2018

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Von Abital Rauber

Als ich Carlos Martínez zum ersten Mal gegenübersitze, bin ich überrascht. Er ist eine unauffällige, bescheiden wirkende Erscheinung, mit grosser geistiger Präsenz. Selbst nach einem anstrengenden Seminartag. Mit wachsamem Blick schaut er mir entgegen. Schnell wird klar: Der Mann, den die meisten als schweigsamen Mimen auf der Bühne kennen, hat etwas zu sagen.

Ich frage Carlos, wie er zu seiner Leidenschaft – der Pantomime – fand. Er denkt kurz nach. «Mmmhh» und dann erzählt er, dass er bereits als Kind gerne Publikum gehabt habe. Er habe auch immer gerne auf Bühnen gestanden und er mochte gerne Geschichten und Märchen erzählen. Es gehe ihm allerdings nicht darum, ein Star zu sein. Es sei ihm vielmehr wichtig, dass die Zuschauer seine Aufführung geniessen können. «Ich wurde als Schauspieler geboren», sagt Carlos, «ich unterhalte und überrasche Menschen gerne.»

Pantomime ist Reduktion
Weshalb funktioniert die Reduktion auf das Wesentliche in der Pantomime-Kunst, in Zeiten, in denen «weniger ist mehr» nicht populär zu sein scheint, möchte ich von Carlos wissen. «Weisst du, manche Leute fragen mich, wie ich das Wort Liebe mime. Ich liebe dich zu sagen, dauert zwei Sekunden. Es ist sehr reduziert. Ich liebe dich in Pantomime dauert mindestens drei Minuten. Ich muss eine Geschichte erzählen, die Liebe zeigt.» Mit Worten können wir schnell etwas vermitteln. Liebe braucht aber nicht nur Worte, sondern auch Ausdruck und das Verstehen des Gegenübers. Deshalb gibt es inzwischen auch Emoticons, mit denen man Texte ergänzen kann, um Gefühle zu zeigen. «Emoji sind die Körpersprache der neuen Generation. Sie sind ein bisschen wie Pantomime», meint Carlos dazu. Wieso wirkt Pantomime trotzdem, auch wenn wir in einer überschwänglichen Gesellschaft leben? Des Humors wegen, ist Carlos überzeugt. Wenn kein Humor vorhanden ist, funktioniert der beste Inhalt mit Publikum nicht. Selbst die begabtesten Sprecher, die über ernsthafte Dinge sprechen, brauchen Humor, um zum Publikum durchzudringen.

Zuhören – Ein Kernelement
Ein erstes Aha-Erlebnis habe ich gleich zu Beginn unseres Gesprächs, als Carlos mir den Aufbau einer Aufführung erklärt: Die ersten ein bis zwei Stücke eines Programms dienen ihm als «Barometer». Da Carlos das Publikum der Schweinwerfer wegen nicht sehen kann, hört er auf jedes Geräusch, jeden Laut, der ihn auf der Bühne erreicht. – Ich bin überrascht. Ich hatte mir bisher keine Vorstellung davon gemacht, dass Hören ein Kernelement von Pantomime sein könnte. Carlos belehrt mich eines Besseren. Nur so könne er die Stimmung des Publikums herausfinden. Auf diese Art und Weise nimmt er Kontakt mit seinen Zuschauern auf. Es sind also die ersten entscheidenden Minuten, die bestimmte Reaktionen – Laute, Geräusche, Stimmen – des Publikums hervorrufen sollen. Diese zeigen Carlos, wie er mit dem Programm weiterfahren kann. Wenn die gewünschten Reaktionen zum richtigen Zeitpunkt zu hören sind, merkt Carlos, dass er auf dem richtigen Weg ist. Dann weiss er, dass die Zuschauer ihm folgen. Wenn dem nicht so ist, weil das Publikum beispielsweise seinen Humor oder die Pointe nicht versteht, wird er die Reihenfolge der Stücke situativ anpassen oder gar einen Programmpunkt ersetzen.

Es ist ein Ei!
Ein leises «Hahaha» oder «Oh» aus der Menge verrate ihm viel über sein Publikum. Ein Beispiel: Eines seiner Stücke spielt in der Küche. Während er diese klassische Geste mit der Hand macht, wie wenn man eine Eischale entzweibricht, ertönen leise verhaltene Worte «Es ist ein Ei!». Carlos schmunzelt, während er erzählt. Man sieht ihm an, dass es solche Momente sind, in denen er die grösste Erfüllung findet. Weshalb die Zuschauer einander zuraunen, habe unterschiedliche Gründe, erzählt er weiter. Sei es die Überraschung, die Freude oder auch nur um zu signalisieren «Hey, ich habe ihn verstanden». Er hört auch, wenn die Zuschauer untereinander kommunizieren. «Natürlich ist es ein Ei!», hört er eine entnervte Stimme aus einer anderen Ecke des Raums entgegnen. Carlos strahlt über das ganze Gesicht: «Als Pantomime ist es mein Ziel, die Zuschauer während des Programms zu überraschen und zu verändern. Nach der Aufführung soll sich jeder Einzelne mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf den Nachhauseweg begeben. Dann habe ich meine Aufgabe gut gemacht.»

Pantomime für Anfänger
Was muss denn ein Pantomime-Neuling wissen? Er versuche den Schülern beizubringen, wie man die Stille berühren könne. Das klinge etwas metaphorisch. Es gehe aber darum, in der Lage zu sein, die Luft zu modellieren. Man könne ja Ton oder Schnee oder gar Sand modellieren. Dies funktioniere auch mit Luft. Wenn er ein Objekt mime, könnten die Zuschauer das Objekt – beispielsweise ein Buch – sehen, obwohl es nicht da sei.
Das Erste, was Carlos in seinen Workshops vermittelt: Alles ist möglich. Jeder kann einen Spiegel mimen oder einen Schmetterling. Oder ein Gefühl. Vielleicht kann jemand nicht alles zeigen, aber er oder sie kann sich mit Gesten ausdrücken. Viele Leute trauen sich einfach zu wenig zu. Aus demselben Grund denken ja auch viele, sie könnten nicht malen oder tanzen.

Auf der Bühne ein Töpfer
«Ich selbst sehe mich auf der Bühne gerne als jemanden, der mit Ton arbeitet», verbildlicht Carlos sein Schaffen. Auch dies erstaunt mich im ersten Moment. Carlos ist sich dessen bewusst und erklärt mir gerne den Hintergrund dieser Aussage: Er modelliere die Emotionen, die Menschen und die Situationen.

Nach einer Aufführung seien die Menschen anders als zuvor. Es spiele keine Rolle, ob sie ohne Erwartungen zu einer Vorstellung gekommen seien, oder mit falschen Erwartungen. «Bühnenkünstler», sagt Carlos, «modellieren die Zuschauer durch ihre Arbeit. Sie verändern ihre Sichtweise, appellieren an ihren Sinn für Humor, machen sie nachdenklich oder fröhlich, berühren ihre Seelen, ihr Innerstes.» Manchmal komme ihm sein Publikum wie Wasser vor, verbildlicht Carlos ein weiteres Mal. Wenn die Zuschauer also Wasser seien, kein formbarer Ton, dann gelänge es ihm nicht, mit ihnen zu arbeiten. Es sei dann auch nicht möglich, eine Geschichte aufzubauen. Mit dem Wasser verhalte es sich ja ähnlich: bei einer Berührung bewege es sich weg. Es gehe bei einer Aufführung darum, Wasser in Ton zu verwandeln.

Bereits als ich mir Carlos’ Aufführungen anschaute, war mir schnell klar: Es geht nicht nur darum, das Publikum ein bisschen zum Lachen zu bringen. Nein, es geht um mehr. Es geht um Inhalt, um Ausdruck und Tiefe, Risiko und Effekt.

Interaktion und Dialog
«Ein Pianist kann ohne Publikum spielen, ein Schriftsteller kann ohne Leser schreiben, aber ein Pantomime-Künstler kann nur mit Publikum mimen», stellt Carlos klar. Dies erklärt einen der Kernpunkte der Pantomime-Kunst: Es findet eine Interaktion, ein Dialog, statt. Obwohl die Zuschauer offensichtlich nicht zuhören.

Als Carlos Pantomime studierte, bat er einen seiner Lehrer um Extrastunden, weil er noch mehr lernen wollte. Dieser riet ihm, stattdessen ins Theater zu gehen, um Schauspieler zu beobachten. «Ich weiss nicht, ob es das war, was er wollte. Aber in Tat und Wahrheit lernte ich von den Reaktionen des Publikums», erzählt Carlos. Auch wenn er sich ein Stück in einer für ihn fremden Sprache ansehe, erkenne er anhand der Reaktionen der Zuschauer, ob die Schauspieler ihre Arbeit gut machen. «Ich beobachte immer die Menschen, die zusehen. In der Kirche, während einer Ansprache oder sogar an einer Beerdigung. Meine Leidenschaft gilt den Menschen, dem Publikum und ihren Reaktionen.» Carlos macht einen Vergleich: Als die Jünger Jesus fragten, ob er der Messias sei, antwortete Jesus nur: Seht euch die Reaktionen der Bevölkerung an, dann wisst ihr es! – Bei Bühnenkunst geht es also primär um die Reaktionen des Publikums.

Gott, der Schöpfer
Während ich Carlos zuhöre, fällt mir auf, dass er oft von modellieren und erschaffen spricht. Ob er denn Gott in erster Linie als Schöpfer sehe? – Auf jeden Fall, er sei ja der Schöpfer der Welt. Und ein Künstler, denn er erschuf sie während einer Woche. Ein Zwischengedanke: In der Bibel lesen wir nichts davon, dass Gott während der Schöpfung viel sprach. Vielleicht war es mehr Pantomime. – Eine spontane Überlegung. Über diesen Gedanken müssen wir beide herzhaft lachen.

Carlos erzählt weiter. Der Unterschied zwischen dem Schöpfer und dem Schöpfer in uns sei, dass Gott bei null begann. Zuvor war nichts. Er sei sich aber sicher, dass Gott mit einem Wunsch begann. Dem Wunsch, diese Erde zu erschaffen. Als Pantomime- Künstler sei sein Herz deshalb nahe bei Gott. Weil auf seiner Bühne auch nichts sei. Er habe kein Instrument, kein Bild oder Buch. Er arbeite mit Luft. Und mit gebündeltem Licht.

In seiner Kunst sehe er sich seinem Schöpfer-Gott etwas ähnlich. Das scheint naheliegend. Nicht nur des Töpferns wegen, sondern auch deshalb, wie Carlos sein Publikum sieht. Die Menschen sässen meist unterhalb der Bühne, hält er fest. Dieses Gefühl zu den Zuschauern nach unten zu schauen, helfe ihm, Gott besser zu begreifen. Oft stelle er sich vor, dass Gott so auf ihn, auf uns Menschen sieht, wie er auf sein Publikum. Er glaube, auf diese Weise Gottes Gefühle uns gegenüber ein wenig besser verstehen zu können. Auf jeden Fall sei Gott für ihn immer sein wichtigster Zuschauer. Jede seiner Performances sei eine Hommage an seinen Schöpfer. Deshalb gebe er immer sein Bestes.

Von kleinen und grossen Wundern
Ein Pastor erzählte einem kleinen Mädchen, dass in der kommenden Woche Carlos, der Pantomime-Künstler, zu Besuch sein werde. Daraufhin fragte das Mädchen, was denn ein Pantomime-Künstler sei. Der Pastor erklärte ihr, dass dies ein Mann ist, der nicht sprechen könne. Man kann sich das Kind vorstellen, wie es die ganze Woche lang dafür betet, dass der arme Mann wieder reden könne. In der Woche darauf spielte Carlos sein Programm. Wie üblich wischte er nach ungefähr 70 Minuten das Make-up weg und sprach zum Publikum. – Für die Kleine war dies ein Wunder und die Antwort auf ihre Gebete.

Können Pantomime-Künstler denn sprechen?
In Tat und Wahrheit sind viele Menschen davon überzeugt, dass Pantomime-Künstler nicht sprechen können. Aber hinter dem Schweigen auf der Bühne verbergen sich viele Worte. «Du kannst nichts in Stille ausdrücken, wenn du nichts zu sagen hast», sagt Carlos bestimmt. «Es sind ja nicht nur Gesten und Bewegungen. Man braucht eine Geschichte, die man mit dem Publikum teilt.» Manche nutzen dafür Dichtkunst, andere Musik oder Malerei – er drücke sich mit Stille aus. Hinter jedem Gedicht, jedem Lied oder Bild stecke eine Geschichte mit vielen, vielen Worten. Selbst wenn er die Landessprachen seines Publikums oft nicht verstehe, könne er durch Pantomime mit ihnen sprechen. «Auf diese Weise verstehen sie mich. Pantomime ist barrierefrei und universell.»

Ein spanischer Schriftsteller schrieb einmal folgendermassen über Carlos: Nie zuvor habe ich jemanden in so vielen Sprachen so wundervoll schweigen gehört. – «Das ist meine Leidenschaft – die Stille – in Kurzform beschrieben», bestätigt Carlos mit sichtlicher Freude. Wenn ihn ein Thema bewegt, sprudeln die Worte wie ein Wasserfall aus Carlos’ Mund. Ich war überrascht über seinen Redefluss. Auch ich hatte andere Erwartungen an einen Pantomime- Künstler.

Wo Worte essenziell sind
Carlos rückt sich auf dem Sofa zurecht, schaut aus dem Fenster und sagt nachdrücklich: «Schweigen gehört auf die Bühne. Im Miteinander – sei es in Freundschaften, Partnerschaften oder auf der Arbeit – sei miteinander reden das A und O.» Zu schnell werde eine Geste falsch verstanden. Im Zweifelsfall, so rät Carlos, solle man bei einem kritischen Blick des Gegenübers einfach nachfragen. Dies wirke Missverständnissen entgegen. Eine Geste kann so viele Interpretationen hervorrufen. Auf der Bühne müsse man ja auch das ganze Stück mit einer Folge von Gesten sehen, um es zu verstehen. Eine Geste allein reiche nicht aus.

«Ich weiss, wie wichtig Worte sind», sagt Carlos bedeutungsvoll. «Von Jakobus liest man in der Bibel zu Recht, dass die menschliche Zunge sehr viel Unheil anrichten kann. – Schweigen kann aber noch viel mehr anrichten. Gott sei Dank können wir sprechen!»

Carlos erzählt begeistert und ich höre gebannt zu. Das liegt bestimmt auch an seiner angenehm ruhigen Stimme. Die Zeit vergeht wie im Flug, sodass wir beide nicht bemerken, wie spät es schon geworden ist. Es fällt schwer, zu einem Schlusspunkt zu finden. Ich hätte noch viele weiteren Fragen und Carlos einiges dazu zu sagen. «Ich bin ein Pantomime-Künstler, der die Worte liebt», sagt Carlos von sich selbst. – Genau so habe ich ihn kennengelernt.

© Online-Redaktion ERF Medien
 
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