Freiwilligengruppe säubert einen Park | (c) 123rf

Spiritualität der Verantwortung

Wie können wir diese Verantwortung wahrnehmen?
 
Publiziert: 15.09.2019

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Von Stefan Moll

Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen scheint aus der Mode gekommen zu sein. Viele Menschen engagieren sich nur noch zurückhaltend für das Gemeinwohl. Aber stimmt das wirklich?

Der Schein trügt! Es entsteht der Eindruck, dass immer weniger Leute Verantwortung für die Gesellschaft wahrnehmen. Es ist nicht leicht, öffentliche Ämter zu besetzen. Parteien und Vereine finden weniger Mitglieder. In Kirchgemeinden mangelt es an ehrenamtlichen Mitarbeitenden. Aber eben: Der Schein trügt. Zwar fehlen manchmal die Leute. Aber das liegt nicht am Desinteresse an der Verantwortung. Es liegt eher an verkrusteten Strukturen in Vereinen und Kirchen. Wen interessiert es schon, einfach das Bisherige zu verwalten? In öffentlichen Ämtern werden Exekutivpolitiker zudem immer häufiger als Fussabtreter behandelt. Wer will schon der Blödmann der Nation sein?

Dafür gedeiht aber ein fröhlicher Wildwuchs. Praktisch aus dem Nichts entstand beispielsweise die «Operation Libero» – und mischt die politische Landschaft auf. Dem Ruf einer schwedischen Aktivistin folgen Millionen andere Schüler, die sich ums Klima Sorge machen. In Quartieren werden Feste gefeiert. Nachbarschaftshilfe lebt auf. Und auch in Kirchen, Vereinen und in Einwohnergemeinden fehlen nicht überall die Leute – sie setzen sich nur anders ein: Nicht mehr zwingend in mehrjährigen Engagements – dafür um so überzeugter in zeitlich beschränkten Projekten, mit denen sie sich identifizieren können. Es gibt auch immer mehr Leute, die Teilzeit arbeiten, weil ihnen die Erziehung ihrer Kinder, die Pflege der Mutter oder die Mithilfe im Asylheim wichtiger ist als das Einkommen. Sie engagieren sich gerne. Da kann man nicht sagen, dass Verantwortung für das Gemeinwohl zu kurz komme, nur weil es heute anders gelebt wird.

Doch wie diese Verantwortung wahrnehmen? Als Christ und Pfarrer suche ich nach Grundsätzen, die uns bei der Wahrnehmung von Verantwortung leiten. Vier sich ergänzende Konzepte treten hervor. Sie berühren mich tief. Diese vier Konzepte führen dazu, für mich und für das Allgemeinwohl Verantwortung zu tragen. Sie legen die Grundlagen.

 

1. Das Konzept der Liebe

Liebe: zu Gott, zum Nächsten und sogar zu Feinden steht im Zentrum. Ergänzt werden muss: Diese Liebe muss auch getragen sein von einer gesunden Liebe zu sich selber. Doch was meint Liebe? Der Begriff ist kaum noch zu gebrauchen, weil er romantisch verdorben ist. Liebe, so glauben viele, ist ein gutes und harmonisches Gefühl für einander. So wertvoll das auch ist: Es überfordert uns. Ich kann doch nicht zu allem und jedem ein gutes Gefühl haben. Um Liebe wieder fruchtbar zu machen für eine Spiritualität der Verantwortung, müssen wir hinter die Romantik zurückgehen.

Es geht um eine praktische Liebe: Was braucht der Nächste, die Umwelt, die Gemeinschaft? Was wendet die Not? Was schulde ich dem anderen? Wo bin ich – wie im Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner – plötzlich in einer Notlage gefragt, Verantwortung zu übernehmen? Dafür muss ich andere nicht mögen. Verantwortung gemäss dem Konzept der Liebe heisst: Die Menschen wahrnehmen – und dann meine Pflicht tun. Spontan und ohne auf eigenen Gewinn bedacht zu sein.

 

2. Das Konzept der Menschenwürde

In einer gesunden Spiritualität – es muss nicht einmal die christliche sein – erschliesst sich die Würde, die jedem Menschen innewohnt. Das betont auch der Glaube an Jesus Christus. Aber diese Würde ist gefährdet.

Ich lese in Kommentarspalten, dass manche sich freuen, wenn Migranten im Mittelmeer ertrinken. Die Menschenwürde wird untergraben. Ich sehe, wie Menschen zu Randständigen werden. Offener Rassismus ist bis in Schweizer Regierungsparteien hinein salonfähig geworden. Manche gewinnen unter schrecklichen Arbeitsbedingungen in den Bergwerken dieser Welt die seltene Erde für unser Smartphone. Manche verhungern – und vielen ist das egal. Die Würde wird untergraben, wenn Menschen mit einer anderen sexuellen Identität, als ich sie habe, öffentlich beschämt werden. Oder wenn Frauen, Männer oder gar Kinder von der Sexindustrie ausgebeutet werden. Es liessen sich noch viele solche Notstände aufzählen.

Jeder Mensch hat seine eigen Würde. Er kann sie mit nichts verspielen. Sie wird nämlich nicht verdient, sie wird verliehen. Man kann sie beschädigen, sie ist antastbar. Aber sie bleibt jedem Menschen zugesprochen. In der Spiritualität der Verantwortung wird diese Einsicht reifen und uns im Handeln, Fühlen und Denken leiten. Hier wird die Würde der Menschen gestärkt.

 

3. Das Konzept der Barmherzigkeit

Aus der Spiritualität der Verantwortung heraus wächst die Tiefe gelebter Barmherzigkeit. Es ist die Fähigkeit, mitzufühlen, wenn jemand bedrängt ist. Noch einmal die Geschichte von Jesus: Sie zeigt, dass die Barmherzigkeit keine Selbstverständlichkeit ist. Zwei religiöse Funktionäre lassen einen Verletzten liegen, ehe ein anderer Reisender ihn entdeckte. Als aber der Samaritaner ihn sah, «jammerte ihn», heisst es in der Bibel.

Wie sehr Barmherzigkeit abstumpfen kann, zeigt sich in sozialen Medien. Was hier an Häme, Spott und Niedertracht ausgegossen wird, spottet jeder Beschreibung. Mir scheint, dass die Hemmungen dabei immer tiefer liegen. Leute, welche die verbale Keule auspacken, fühlen sich dabei völlig ins Recht gesetzt. Ihnen geht aber immer mehr die Fähigkeit verloren, andere zu verstehen und die Beschämung, die ihre Worte auslösen, zu erkennen. Barmherzigkeit muss man lernen und pflegen. Sie kann geschult werden. Dazu braucht es eben diese Spiritualität der Verantwortung. Sie zu lernen macht verletzlich. Empathie kann anstrengend sein. Aber sie gehört zum tiefsten Kern des Menschen.

 

4. Das Konzept der Wahrheit

Aus einer Spiritualität der Verantwortung wächst auch eine neue Wertschätzung für die Wahrheit. Was wahr ist, was halb wahr und was schlicht Blödsinn ist, ist immer schwieriger zu unterscheiden. Denn in den sozialen Medien erklärt jeder das Seine für die absolute Wahrheit. Als Beispiel nehme ich die Aussagen über den Islam. Diese zeugen oft von einer bemerkenswerten Unkenntnis. Da wird Kritik geübt, als seien Muslime nichts als eine Bande von Verbrechern. Dabei wird oft das Beste aus dem Christentum mit dem schlechtesten aus dem Islam vergleichen. Es entsteht ein Klima der Abwertung und der Verachtung. In der Folge bekommen die Urheber solch seltsamer Ansagen selbst immer mehr Angst vor dem Islam.

Eine Spiritualität der Verantwortung ist der Wahrheit verpflichtet. Nicht einer Einzelwahrheit, sondern der ganzen Sache. Sie stellt, um beim Beispiel zu bleiben, auch die humanitäre Seite des Islam dar, widerspiegelt auch den Respekt vor einer Weltreligion und verheimlicht auch nicht die Gewalt und die Fehlentwicklungen. Auch nicht die der eigenen Religion.

Bei Abstimmungen oder in Wahlkämpfen schrumpft der Wille zur Wahrheit. Heute braucht es einen neuen Mut, klar und umfassend zu erkunden, was Wahrheit ist. Auch dann, wenn es unbequem wird. Diese Konzepte werden durch eine Spiritualität der Verantwortung gestärkt. Sie leiten uns, wenn wir uns für das Gemeinwohl einsetzen. Aber Verantwortung für das Ganze ist kein christliches Spezifikum. Auch areligiöse Menschen oder Leute aus anderen Religionen leben die Spiritualität der Verantwortung. Und doch kann man fragen: Was bedeutet es, sich am Vorbild von Jesus zu orientieren? Auch wenn mögliche Leitlinien nicht einfach den Glaubenden vorbehalten sind: Es gibt solche spezifisch christlichen Grundsätze. Alle können sie leben, aber ihre Kraft gewinnen sie aus der jüdisch-christlichen Tradition.

 

a) Du sollst deinen Nächsten inkludieren

Jesus Christus hat die Gemeinschaft mit jenen gesucht, denen es in seiner Zeit besonders dreckig ging. Dabei hat er sich über alle gesellschaftlichen Grenzen hinweggesetzt. Schon damals wurden viele ausgegrenzt. Heute sind es vor allem Asylsuchende, die am Rand der Gesellschaft stehen. Oder Gescheiterte, Strafgefangene, Obdachlose oder Süchtige. Viele beschämte Menschen verkriechen sich in ihrer Wohnung und vereinsamen.

Jesus Christus hat Brücken gebaut zu den Ausgegrenzten seiner Zeit. Er hat auch mit Parteien gesprochen, mit denen niemand spricht. Zum Beispiel mit den Samaritanern oder mit Bettlern und Aussätzigen. Diese Offenheit hat harte Tabus gesprengt. In der Öffentlichkeit wurde Jesus deswegen heftig angegriffen. Die christliche Prägung ist aber nicht, dass Glaubende diesen Leuten besonders viel helfen. Das ist manchmal ein Anfang, aber noch nicht das christliche Profil. Jesus hat mit den Verlorenen seiner Zeit zusammengelebt. Sie waren seine Freunde. Sie haben ihm ebenso geholfen wie er ihnen. Es ging um Beziehung, nicht (nur) um Überlebenshilfe. Inklusion könnte das oberste christliche Gebot sein – ein durchaus angemessenes Verständnis für Nächsten- und Feindesliebe.

 

b) Der weite Tisch

Jesus war immer wieder an Festessen dabei. Als Gast, nicht als Gastgeber. Mit ihm waren auch die Ärmsten seiner Zeit eingeladen. Es gab für ihn keine Randständigen. Er hat sie in die Mitte geführt. Aus dem weiten Tisch der Gastfreundschaft ist später das Abendmahl entstanden. Solche offenen Tische braucht es heute wieder. Nicht nur, damit alle genug zum Essen haben. Es braucht vor allem auch Freunde, mit denen wir zusammen feiern. Solche weiten Tische werden immer mehr durch Kirchen gedeckt. Hier treffen sich die unterschiedlichsten Menschen – und niemand muss für das Essen bezahlen. Wenn alle teilen, reicht es für jeden.

 

c) Das prophetische Wort

Es ist auch ein Zeichen der Liebe, im Sinn von Jesus Klartext zu sprechen. Das ist der prophetische Auftrag der Kirchen. Jesus hat manchmal ausgesprochen harte Worte gebraucht. Aber nicht etwa gegen Sünder oder um sich selber zu verteidigen, sondern er hat sie an unbarmherzige Menschen, an religiöse Rechthaber und Ausgrenzer gerichtet. Jesus Christus konnte sehr direkt und kämpferisch werden.

Setzen sich Christen für das Gemeinwohl ein, gehört auch heute noch dieses Prophetenwort dazu. Es geht darum, Gerechtigkeit einzufordern. Das geht aber nicht, ohne auch den Konflikt zu wagen. Ich wünsche mir mutige Christen, die sich trauen, Klartext zu reden.

 

d) Die 7 Werke der Barmherzigkeit

Manche finden es problematisch, wenn Christen sich aus humanistischen oder sozialen Gründen für das Gemeinwohl einsetzen und Verantwortung übernehmen. Müssten sich Christen nicht vielmehr auf ihr Kerngeschäft konzentrieren? Doch ich frage: Welches Kerngeschäft eigentlich? Beten? Gottesdienste? Sitzungen leiten? Oder was noch?

Jesus Christus malt im Matthäusevangelium ein grandioses Bild vom Kerngeschäft. Im Kapitel 25 steht, was wirklich zählt: Hungernde speisen, den Dürstenden zu trinken geben, die Nackten bekleiden, die Fremden aufnehmen, Kranke und Gefangenen besuchen. Um auf die Zahl 7 zu kommen, hat die christliche Tradition später noch ein letztes Werk der Barmherzigkeit hinzugefügt: Tote begraben! Wer das tut, trifft in diesen Begegnungen Jesus Christus selber. Diese Werke haben selbst im Jüngsten Gericht bestand. Für manche Christen ist es höchst irritierend, dass beispielsweise der Glaube in diesem Bibeltext keine Rolle spielt. Es ist Glaube, wenn die Werke der Barmherzigkeit gelebt werden. Diese Werke gehören ins Zentrum christlicher Spiritualität.

 

Noch einmal: Spiritualität der Verantwortung

Was ist sie aber, diese Spiritualität der Verantwortung? Sie ist der Mut, Antwort zu geben. Sie ist der Mut, die eigenen Werke, Gedanken, Worte und Gefühle vor Gott zu bewegen. Auch das vor Gott zu hinterfragen, was wir mit bester Absicht tun. Nicht, um uns zu zermürben. Sondern um aus der Kraft dieser Spiritualität in der Liebe zum Ganzen zu wachsen. Und damit die Verantwortung zu tragen, wo es in unserer Kraft steht. Die Spiritualität der Verantwortung lässt uns Antworten geben, damit die Liebe viel Raum gewinnt.

 

Zur Person

Stefan Moll ist Vielleser, Schnelldenker und Optimist. Offenheit ist ihm wichtig: in den Herzen, im Denken und im Glauben, bei Türen und Grenzen. Er arbeitet als Pfarrer teilzeitlich bei der EMK Baden sowie für den Schlagersender musig24.tv.

© Online-Redaktion ERF Medien
 
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