Von Thomas Sjödin
Haben Sie das neue Jahr mit guten Vorsätzen begonnen? Oder haben Sie darauf verzichtet, im Wissen, dass diese Ansprüche oft schwer zu erfüllen sind? Es ist ja auch kein Wunder: Jeden Tag prasseln Erwartungen auf uns ein – von der Gesellschaft, vom Arbeitgeber, von der Familie und nicht zuletzt von uns selbst. Die To-do-Liste scheint endlos, und überall heisst es: mehr leisten, mehr erreichen, mehr verändern. Doch was passiert, wenn wir diesen Ansprüchen nicht genügen? Unser Autor hat eine erfrischende Antwort darauf: «Man muss nicht immer genügen. Es genügt, dass man einfach da ist.»
Seit einer Reihe von Jahren erscheinen ständig neue Bücher mit Titeln, die alle so ähnlich heissen wie «101 Sachen,die du tun musst, bevor du stirbst». Bei den Online-Buchhändlern fand ich über zwanzig Titel, die ganz ähnlich klangen und deren Umsetzung natürlich unmöglich ist: «1001 Bücher, die Sie lesen sollten, bevor das Leben vorbei ist», «101 Horrorfilme, die Sie sehen sollten, bevor das Leben vorbei ist», «101 Biersorten, die Sie trinken sollten …» und – wohl das am schwersten umzusetzende Projekt– «1001 Naturwunder, die Sie sehen sollten …». Sicher ein ganz besonderes Buch, nur dass es einen Titel hat, der einen ein bisschen stresst.
Als ich ein Kind war, gab es genau sieben Weltwunder. Schon damals wusste ich, dass ich es vermutlich nicht schaffen würde, sie zu sehen, und wenn doch, dann höchstens eins oder zwei davon. Jetzt soll ich mir über 1000 Naturwunder ansehen. Und ich soll sie alle anschauen, bevor das Leben vorbei ist. Der Gedanke dahinter: Wenn man eines Tages auf sein Leben zurückschaut und sagen kann, dass man wirklich gelebt hat, dann war man auf jeden Fall sehr fleissig unterwegs.
Da hat sich offenbar etwas verschoben: von der Dankbarkeit für alles, was man erleben durfte, hin zum Bedauern all dessen, was man verpasst hat. Eine Art Trauer wegen all des Ungetanen. Als sei das Leben an sich nicht bedeutungsvoll genug, fühlt man sich gezwungen, all die Bücher zu betrauern, die man nicht gelesen hat, die Filme, zu denen man es nicht ins Kino geschafft hat. Man fühlt sich gezwungen zu bedauern, dass man vermutlich nie den Machu Picchu in Peru sehen wird oder die merkwürdigen Steinfiguren, die auf den Osterinseln stehen.
«Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, dann füge nichts seinen Reichtümern hinzu, sondern nimm ihm einige von seinen Wünschen», sagte schon Epikur, ein griechischer Philosoph, der etwa 300 Jahre vor Christus lebte. Er stützte sich auf Schriften, in denen die Begrenzung als Befreiung gefeiert wurde. Sich enthalten, Nein sagen, die Begierden lenken, das alles bedeutet, etwas Grösserem Raum zu geben und einen Platz zu schaffen, an dem es wachsen kann. Die Begierden sind gut, aber wenn sie als wilde Horde auftauchen, ist es klug, ein bisschen streng zu sein. Nicht selten strömt eine überraschende Freude in unser Leben, wenn eine Begierde auf ein freundliches Nein trifft. Es gibt so viel, was man nicht muss und noch nicht einmal braucht.
Ich denke an einen gestressten Geschäftsmann, der sich ein paar Tage frei nehmen wollte, um wegzufahren und sich auszuruhen. Er hatte gehört, man könne in einem nahegelegenen Kloster zu einem günstigen Preis unterkommen. Das Angebot fand er zwar etwas seltsam, wollte es aber testen. Gesagt, getan. Er rief an, erkundigte sich bei den Klosterbrüdern und wurde bald herzlich willkommen geheissen.
Im Kloster angekommen, zeigte man ihm das Gästehaus und den kahlen Raum, der ihm zugewiesen worden war. Der freundliche Mönch, der ihn begleitete, nannte die Essenszeiten und die Gebetszeiten und betonte, dass alles freiwillig sei. Dann wandte er sich zur Tür, um zu gehen, drehte sich aber noch einmal um. «Übrigens: Wenn Sie noch irgendetwas brauchen, sagen Sie es uns! Dann zeigen wir Ihnen, wie man darauf verzichtet.»
So wie es ist, ist es gut
Kurz vor dem Weihnachtsfest 2013 verstarb der Karmelitermönch und Autor Wilfrid Stinissen. Seine Bedeutung für das geistliche Leben in unserem Land kann kaum überschätzt werden. Durch Zeitschriftenartikel und Büchererreichte er Menschen weit über die Grenzen seiner eigenen Kirche hinaus. Sein Markenzeichen war eine tiefegeistliche Weisheit, «dargereicht» in einer verblüffend schlichten Verpackung. Erst im Nachhinein merkte man, dass die Lektüre etwas mit einem gemacht hatte. Ich habe Stinissen ein einziges Mal getroffen – und dann auch nur für wenige Stunden. Aber während dieser Begegnung erhielt ich den geistlichen Rat, der mir in meinem Leben am meisten bedeutet. Dabei war es eigentlichgar kein Rat, sondern nur ein kurzer Kommentar, und der lautete: «So wie es ist, ist esgut.»
Zusammen mit einem Schriftstellerkollegen war ich ins Kloster Norraby in Tågarp gereist, nach Skåne, in die südlichste Provinz Schwedens. Schon die Art, wie Stinissen uns willkommen hiess, beeindruckte uns. Er stand draussen und hielt nach uns Ausschau, während wir durch den milchig weissen Januarnebel stapften. Als wir bei ihm waren, fiel er uns um den Hals, als habe er wochenlang auf uns gewartet. Auch wenn das natürlich nicht der Fall war – es fühlte sich so an. Und dann verbrachten wir einen Tag in der Gesellschaft eines Mannes, der vieles «abgewählt» hatte, um ein Leben im Gebet zu führen.
Unser Gespräch kann ich im Nachhinein gar nicht wiedergeben, aber gegen Ende des Tages fragte ich ihn beunruhigt nach meinem eigenen geistlichen Leben, von dem ich glaubte, es bekäme wegen meines Familienlebens, des Berufs, der vielen Verpflichtungen und der extrem knapp bemessenen Zeit zur Stille einfach zu wenig Raum zur Entwicklung.
Stinissen sah mich lange an. Dann schaute er eine Weile woanders hin und schliesslich sagte er: «Ich glaube, Gott sieht dich an und sagt: <So wie es ist, ist es gut.>» Dann schaute er auf den Boden und sagte wieder eine Weile nichts. Nach dieser Stille, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, ergänzte er: «Aber du sollst wissen, dass du immer willkommen bist, wenn du Gott näherkommen möchtest.»
Seit jenem Tag sind wohl zwanzig Jahre vergangen, aber diese beiden Sätze leben heute stärker in mir als jemals zuvor. Das Kennzeichen guter geistlicher Wegbegleitung ist, dass sie nicht noch ein zusätzliches Defizit spüren lässt, sondern Mut. Und genau das geschah an diesem Tag. Und geschieht weiterhin. Ich bekam den Mut, mit der Selbstunterschätzung Schluss zu machen.
Der innere Stress und der Zwang, sich ständig weiterentwickeln zu müssen, sind die Feinde des geistlichen Lebens. Der Glaube ist eine Erscheinungsform der Liebe, und Liebe lässt sich nicht einpeitschen. Dagegen bewegt man sich, ohne dass man darum gebeten worden sein müsste, gern auf den zu, von dem man sich geliebt fühlt.
«Wenn man nicht mehr unzufrieden ist, hört man auf, Fortschritte zu machen», schrieb der schwedische Poet Alf Henrikson seinerzeit. Das ist die eine Wahrheit, aber es gibt auch andere, zum Beispiel die, dass eine enorme Kraft zum Wachstum freigesetzt wird, wenn man aufhört, sich ständig verbessern und verändern zu wollen, und stattdessen einen Moment ruht und sich sagt: So wie es ist, ist es gut.
Dass Gott uns in dem Zustand liebt, in dem wir uns gerade befinden, das hat mich dieser Karmelitermönch gelehrt.