Von Michelle Boss
Die junge Frau war verzweifelt. Ihr Kind, das ohne sie in ihrer Heimat geblieben war, war schwer krank. Sie musste dringend Geld auftreiben, um es ihrer Familie zu schicken, damit diese dem Kind die notwendige Behandlung ermöglichen konnte. Noch lieber wollte sie selbst zurückreisen, um ihrem Kind beizustehen und das Geld zu überbringen. Doch wie bezahlen?
Ihre Geschichte berührte mich als 17-jährige Gymnasiastin zutiefst. Die Frau hatte mich während meiner Mittagspause auf der Strasse angesprochen und um Geld gebeten. Kurz zuvor hatte ich mir aufgrund einer Predigt zum Thema Nächstenliebe vorgenommen, jede mögliche Gelegenheit wahrzunehmen, um für meine Mitmenschen da zu sein. Also nahm ich mir die Zeit, um mir ihre Geschichte anzuhören.
Hier nimmt die Anekdote allerdings eine eher unrühmliche Wendung. Denn in meiner Überzeugung, heldenhaft christliche Nächstenliebe zu üben, verliess mich mein gesunder Menschenverstand. Die Frau, die meine Betroffenheit spürte, wurde plötzlich fordernd. Sie begann, grosse Summen zu nennen, die sie dringendund sofort benötigte. Und sie brachte mich tatsächlich dazu, nachmittags in meiner Klasse eine Sammelaktion durchzuführen. Erfolglos. Alle waren skeptisch, ob die junge Frau nicht einfach auf Beutezug sei. So kehrte ich niedergeschlagen zum vereinbarten Zeitpunkt zurück und überreichte lediglich die 50 Franken, die ich von meinem eigenen Konto abgehoben hatte.
Mit Enttäuschung oder Resignation hatte ich gerechnet. Nicht aber mit der geballten Wut, die mir von Seiten der Beschenkten entgegenschlug. Sie beschimpfte mich dafür, dass ich falsche Erwartungen geschürt hätte.
Und sie zog schliesslich mit meinem Geld davon. Erst da realisierte ich beschämt, dass ich keine selbstlose und grosszügige Retterin in der Not war, sondern lediglich eine naive Betrogene.
Das Erlebte verunsicherte mich eine ganze Weile. Führt Nächstenliebe dazu, dass wir ausgenutzt werden? Erwartet Gott von mir, dass ich mich diesem Risiko bewusst aussetze? Oder darf und soll ich Grenzen ziehen? Und wenn ja – woher weiss ich, wann und wo?
«Liebe deinen Nächsten wie dich selbst», fordert Jesus uns laut biblischer Überlieferung auf. Da ist kein Gefälle, meine Nächsten und ich stehen auf gleicher Ebene. Das scheint mir kein Aufruf zur totalen Selbstaufgabe zu sein. Und doch erfordert gelebte Nächstenliebe manchmal, meine eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen.
Auch heute noch erlebe ich diese Spannung, dieses stetige Abwägen, als Herausforderung. Meine Ressourcen sind endlich. Das gilt nicht nur für meine finanziellen Mittel, sondern auch für meine Zeit, Kraft und Energie. Gleichzeitig scheint die Not der Menschen auf dieser Welt unendlich und es gibt immer Menschen, die Hilfe brauchen.
Doch ich bin inzwischen überzeugt: Genauso, wie Jesus mir aufträgt, für andere Menschen da zu sein, trägt er mir auch auf, auf mich selbst zu achten. Beides ist wichtig.
Den 50 Franken, die die junge Frau in der Fussgängerzone damals von mir ergaunert hatte, trauerte ich übrigens nicht lange nach. Ich möchte bis heute gerne glauben, dass unsere Begegnung etwas bei ihr ausgelöst haben könnte. Und falls nicht, war es zumindest bei mir selbst der Fall.