Von Simon Kaldewey
Es ist Frühling. Die ersten Blumen pflügen vorsichtig durch die Erde und zeigen ihre herrlichen Köpfe. Wir Menschen brauchen allerdings etwas länger, um die frostigen Jahre der Pandemie hinter uns zu lassen. Die Frage, ob da draussen genügend Wärme für unser Leben vorhanden ist, lässt uns zögern.
Im Blick auf unsere Beziehungen waren die letzten Jahre anspruchsvoll. Wie eine unbarmherzige Bise hat die Pandemie die Schutzschicht von unseren Meinungen und Überzeugungen fortgeblasen. Beraubt von dieser Schutzschicht aus Freundlichkeit, Geduld oder Verzicht wurden unsere Begegnungen schmerzhaft, verletzend, manchmal unerträglich. Wir mussten Gespräche abbrechen, weil in uns und im Gegenüber nur noch die nackte Wahrheit übriggeblieben schien.
Jetzt ist Frühling – und wir müssen noch entscheiden, ob wir zurückwollen. Ob wir wieder mit «diesen Menschen» zusammen sein wollen, die wir in unseren Kirchen und Vereinen antreffen werden. Ob wir diese Kämpfe und Krämpfe wollen oder lieber «für uns» bleiben, geborgen in einem kleinen Netz von gleichgesinnten Menschen.
Kürzlich bin ich mit einer Frau über eine schwierige Begegnung ins Gespräch gekommen. Zuerst war der Bericht voll Schmerz über die fehlende Nähe und dem unerfüllten Wunsch, verstanden zu werden. Unter Tränen hörte ich vom Zweifel über den Sinn dieser Beziehung und vom starken Drang, diesen Versuch aufzugeben. Gleichzeitig fand ein gänzlich anderer Gedankenstrang Eingang in unseren Dialog: dass dieser Schmerz irgendwie dazugehört, um die wunden Punkte im eigenen Leben zu erkennen. Etwas Lachen mischte sich unter die Tränen, als sie dieses Spannungsfeld erfasste: den Konflikt zu hassen und den Konflikt zu wollen, weil er eine wichtige Funktion erfüllt.
Deshalb sind Konflikte schmerzhaft schön
Konflikte sind unbequem und mühsam; sie kosten Zeit und Kraft und Nerven. Und doch beinhalten sie eine unbändige Kraft, Dinge in uns zu verändern. Wer sich diesem Potenzial öffnet, kann von ihrer formenden Kraft profitieren. Im Konflikt reiben wir uns aneinander. Die Wirkung muss aber nicht zerstörerisch sein, sie muss uns nicht aufreiben. Wenn wir Konflikte als gestalterische Kraft zu nutzen lernen, werden sie zu einer Gelegenheit der Veränderung, durch die uns Gott in sein Bild formt. «Eisen wird mit Eisen geschärft, und ein Mensch bekommt seinen Schliff durch Umgang mit anderen.» (Sprüche 27,17)
Wir blenden 2000 Jahre zurück
Gegenüber von Jesus steht Petrus, klitschnass nach einem Sprung aus dem Boot, um möglichst schnell bei ihm zu sein. Was tut Jesus in dieser Szene aus dem Evangelium des Johannes? Statt ihn freundlich zu umarmen, legt er seinen Finger auf die Wunde des Verrats, die im Herzen von Petrus klafft. «Liebst du mich?» Dreimal fragt Jesus, dreimal für jeden Verrat in der Nacht des Todes. Und Petrus steht da und bleibt bei Jesus, auch als ihn die Trauer überwältigt. Er bleibt im Konflikt, den Jesus aus seinen guten Gründen gesucht hat.
Andere halten es nicht aus bei Jesus. Von einem wohlhabenden Mann heisst es, dass er traurig wegging, nachdem ihn der menschenliebende Jesus an seine Schwachstelle erinnert hatte (vgl. Matthäus 19,22). Jesus provoziert Tränen! Er lässt Konflikte zu, weil er seinen Nachfolgern Zugang zu ihrer formenden Kraft schenken möchte.
Konflikte aushalten
Konflikte sind zum Davonlaufen! Aber dann geschieht nichts. Nur wenn wir sie aushalten, formen sie uns. Was haben wir in den letzten Jahren über den richtigen Umgang mit dem Staat, mit unserer Gesundheit und mit unserem Glauben gestritten! Wer sich dabei in seiner Haltung dafür (oder dagegen, das ist einerlei) verbunkert und darauf konzentriert hat, gegenteilige Meinungen zu vermeiden, ist sicher, bestärkt und unverändert aus der Krise gekommen. Er ist noch deutlicher zu dem Menschen geworden, der er schon vorher war. Wer sich dem konfliktreichen Dialog mit anders Überzeugten, Querdenkern oder Falschliegern gestellt hat, ist zwar müde, aber reifer geworden. Er ist nicht mehr ganz Derselbe: Die formende Kraft des Konflikts hat eine gute Prägung auf der Seele hinterlassen.
Ich kann nicht – ganz allein für mich – «wie Jesus» werden. Was mir an Gottebenbildlichkeit fehlt, finde ich nicht in mir, sondern im andern. Im «mit-mir-allein-Sein» werden meine Kanten nicht abgeschliffen, sondern zugespitzt. Ich werde zu einem Zerrbild, zu einem Extrem meiner Selbst. Erst im Konflikt mit anderen Menschen wird meine Einseitigkeit relativiert. Ich werde ausgeglichen und finde zur Mitte. Und genau da ist Gott, mitten unter den Menschen, weil die Menschheit als Ganzes ein Spiegel von ihm ist.
Konflikte machen also schön
Dabei geht es nicht um die offen sichtbare Schönheit der reibungsfreien Gemeinschaft mit Gleichgesinnten. Mit diesen Menschen fühlen wir uns rundum wohl und entspannen in der Tiefe – weil einfach so vieles passt. Wir erfahren Schönheit ohne Schmerz. Konflikte hingegen machen weh; es ist der Schmerz der Nadel als einziger Weg unter die Haut. Indem Konflikte die glatte, makellose Oberfläche durchdringen, berühren sie die Seele und formen sie zu einer Schönheit, über die Gott und die Welt nachhaltig staunen werden.
Warum hassen wir Konflikte und tun alles, um sie zu vermeiden? Wir haben Angst, dass wir zu grundsätzlich in Frage gestellt werden. Wir sorgen uns, dass wir nach dem Konflikt etwas verloren haben: Ansehen, Grundsätze, Positionen, Zugehörigkeit, Beziehung. Und das kann tatsächlich passieren. Es muss uns deshalb bewusstwerden, dass wir hier von vorletzten Dingen sprechen. Wer wir sind, wird nicht in Frage gestellt. Unsere Identität ist sicher geborgen in den Händen eines Schöpfers, der von Anfang an diesen tiefen Kern unseres Menschseins bewahrt hat. «Dir war ich nicht verborgen, als ich Gestalt annahm, als ich im Dunkeln erschaffen wurde, kunstvoll gebildet im tiefen Schoss der Erde.» (Psalm 139,15) Was in Frage gestellt wird, sind die Schichten, die sich über Zeit und Erfahrung um uns gebildet haben wie die Frostschicht um eine Blüte in einer zu kalten Frühlingsnacht. Und es ist richtig, wenn das in Frage gestellt wird. Es kann den Frost zum Schmelzen und der Blüte die Chance bringen, zu einer guten Frucht zu reifen.
Sich den Konflikten stellen
Stellen wir uns also den Menschen, bei denen das Potenzial für Konflikte vorhanden ist. Begegnen wir ihnen nicht in der stillen Hoffnung, dass nichts schief gehen wird. Begegnen wir ihnen lieber in der fröhlichen Gelassenheit, dass es unbedingt zu einem Konflikt kommen wird und wir damit Zugang zu einer formenden Kraft erhalten, durch die Gott unsere Herzen gestalten möchte.
Gleichzeitig muss uns bewusst sein, dass konstruktiv genutzte Konflikte keine Selbstverständlichkeit sind. Wenn wir nicht gelernt haben, sie weise zu bearbeiten, richten sie durchaus Zerstörung an. Folgende drei Überlegungen mögen dabei helfen, die eigene Konfliktfähigkeit zu stärken:
Auf meinem Weg nach Hause schaue ich über einen verwitterten Zaun in einen Garten, der voll in Blüte steht. Mit dem Frühling kommen die Blumen zurück. So kann Gemeinschaft aussehen, wenn wir uns auf den Weg zurück machen. Was uns dort erwartet, ist nicht konfliktfrei, aber genau darin liegt ihre schmerzhafte Schönheit verborgen. Gemeinschaft ist nicht trotz, sondern gerade wegen den damit verbundenen Reibungsschmerzen schön. Gemeinschaft ist ein Konfliktherd – und das ist gut so.
Zur Person
Simon Kaldewey ist von Menschen begeistert und fasziniert von allem, was zwischen ihnen geschieht. Diese Leidenschaft lebt er als Ehemann, Vater und Pastor seiner geistlichen Familie, der FEG Steffisburg (feg-steffisburg.ch)