Von Ruedi Josuran
Nähe und Distanz waren während der Corona-Pandemie ein anspruchsvolles Trainingsfeld. Mir haben oft ungetrübte Gemeinschafts-Momente gefehlt, ohne ständig aufpassen zu müssen. Anderen ging es genau umgekehrt. Sie waren froh, etwas distanzierter bleiben zu können. Offenbar gibt es noch mehr Varianten. Ein Bekannter schilderte mir seinen aktuellen Beziehungsstatus: «Wir leben in einer On-Off-Beziehung. Nähe und Distanz regeln wir ständig neu.»
«Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei», steht auf den ersten Blättern der Bibel im Buch Genesis. Gemeinschaft und Beziehungen tun uns gut. Aber wie viel? Wie ist das mit der Nähe und Distanz? Wie kann ich mit den Erwartungen anderer klarkommen und trotzdem meine eigenen Bedürfnisse beachten? Wie kann ich nachgeben und trotzdem für eigene Überzeugungen kämpfen? Da stellt sich die Frage nach der Abgrenzung. Lebe ich – oder werde ich gelebt? Überall, wo es um Gemeinschaft und Beziehungen geht, gibt es diese Spannungsfelder. Missverständnisse, Verletzungen und Trennungen sind schmerzhaft, aber irgendwie nie ganz zu vermeiden.
Dazu kommen Ideale und perfektionistische Ansprüche: «so-wie-es-sein-sollte» – in der Ehe, Familie oder Kirche. Leben und leben lassen wäre entspannter. Andere Menschen und Kulturen als Horizonterweiterung anstatt einer Bedrohung meiner Komfortzone zu sehen.
Die Impf-Frage und all die Massnahmen rund um die Corona-Pandemie haben harte Diskussionen in den Familienalltag gebracht. Auch Kirchen und Gemeinden wurden nicht verschont. Freundschaften brachen auseinander. Gräben entstanden. Vermutungen wurden zu absoluten Wahrheiten. Die Bereitschaft, andere Standpunkte anzuhören, wurde immer kleiner.
Schon als Kind zog ich mich zurück, wenn gestritten und es richtig laut wurde. Später, in einer jungen Kirche, warf man mir immer wieder meine Harmonie-Bedürftigkeit vor. Andere Sichtweisen, andere Meinungen empfand ich lange als Bedrohung. Irgendwann entdeckte ich, dass mich der Austausch verschiedener Meinungen und Standpunkte weiterbringt. Dass sich womöglich Gott etwas dabei gedacht hat, dass wir verschieden sind. «Diversity Management» nennt man das in der Wirtschaftssprache – Unterschiede als Ressource nutzen. Ich darf sein – andere aber auch. Es braucht Mut, sich hinterfragen zu lassen, sicher geglaubtes Terrain zu verlassen, um Standpunkte zu ringen und Unterschiede als mögliche Ressourcen zu entdecken. Der Apostel Paulus bringt es für mich auf den Punkt. Es hört und liest sich wie eine Fremdsprache, denn es steht im Kontrast zur heutigen Ellbogen-Gesellschaft:
«Weder Eigennutz noch Streben nach Ehre sollen euer Handeln bestimmen. Im Gegenteil: Seid bescheiden und achtet den anderen mehr als euch selbst. Denkt nicht an euren eigenen Vorteil. Jeder von euch soll das Wohl des anderen im Auge haben.» (Philipper 2, 3-4)
Jesus lehrt mich, dass ich einen Wert habe, der nicht von aussen definiert wird. Das gibt mir Identität. Ich bin einzigartig, aber auch ergänzungsbedürftig. Diese Mischung braucht es, um gemeinschaftsfähig zu bleiben.