Von Michelle Boss
«Sei Pippi, nicht Annika!». Dieser Spruch kursiert seit Jahren in den sozialen Medien. Er verkörpert unser Ideal der Selbstoptimierung. Vielleicht genau deswegen mag ich ihn nicht.
Natürlich, wer würde Pippi nicht mögen. Sie ist mutig, kreativ, unkonventionell, setzt sich ein für Schwache. Neben ihr verblasst die angepasste, vorsichtige, aber ausgesprochen empathische und freundliche Annika und wird zum Mauerblümchen. Nur: Macht sie das weniger liebenswert, gar weniger wertvoll? Oder hätte sie mehr Spass am Leben, wenn sie wie Pippi wäre? Wohl kaum.
Mir scheint die Aufforderung, zu sein wie Pippi, symptomatisch für den aktuellen Zeitgeist. Gefragt sind selbstbewusste und belastbare Menschen, die ihre Ziele verfolgen, die sich nicht von Traditionen oder Konventionen einengen lassen. Extrovertierte, fröhliche, engagierte Menschen, die gerne aktiv und vielseitig interessiert sind.
«Sei frech und wild und wunderbar», lautet ein ähnliches, gerne bemühtes Zitat. Es wird Pippis Schöpferin Astrid Lindgren zugeschrieben, was allerdings nicht belegt ist.
Was aber ist mit all den Menschen, die nicht so sind? Introvertierte, grüblerische, melancholische und ruhige Menschen, Menschen, die sich selbst genug sind? Die gar nicht das Bedürfnis haben, sich überall durchzusetzen? Die keine geborenen Partykanonen sind? Sätze, wie die beiden Zitate suggerieren, dass solche Menschen an sich arbeiten sollten. Dass es besser wäre, wenn sie anders wären.
Als Mutter von vier Töchtern lebe ich sowohl mit Pippis als auch mit Annikas zusammen. Sie sind nicht alle gleich frech und wild. Aber sie sind alle wunderbar.
«Meine» Pippi, die immer mit dem Kopf durch die Wand möchte, die Energie zu haben scheint wie ein Duracell-Häschen, die fröhlich und spritzig ist, uns immer wieder mit ihren kreativen Einfällen überrascht und manchmal auch überfordert – sie wärmt mit ihrer überschäumenden Lebensfreude mein Herz und bringt mich zugleich oft an den Rand meiner Kräfte. Ich liebe sie über alles. Wie käme ich dazu, sie ändern zu wollen?
Und dann ist da «meine» Annika, die sich stundenlange in ihren Büchern vergraben kann, die in Fantasiewelten abtaucht und manchmal nur sehr schwer wieder aufzutauchen vermag, die den Dingen gerne auf den Grund geht, die gutmütig, mitfühlend und liebevoll ist. Sie fasziniert mich mit ihrem Vorstellungsvermögen und ihrem Intellekt, berührt mich mit ihrer Freundlichkeit – und lässt mich manchmal verzweifeln mit ihrer Trägheit. Ich liebe sie über alles. Wie käme ich dazu, sie ändern zu wollen?
Mich fasziniert der Gedanke, dass Gott uns so sieht. Er wertschätzt all unsere Charaktereigenschaften. Auch diejenigen, die uns und manchmal auch unserem Umfeld das Leben schwer machen. Er hat uns unterschiedlich geschaffen, und das ganz bewusst. Als Pippis, Annikas und all die anderen.
Wir brauchen nicht zu versuchen, jemand zu werden, der wir nicht sind. Stattdessen sollten wir uns anfreunden mit dem Menschen, der wir sind. Uns ehrlich reflektieren und zulassen, dass das, was wir erleben, uns schleift und verändert. So entsteht organisches Wachstum statt bemühte Selbstoptimierung. Wir werden dadurch nicht zu Pippi oder Annika – sondern zur besten Version unserer selbst.