Von Andreas Hausammann
Musik ist ein ganz und gar wunderbares Geschenk Gottes, ein einzigartiger Ausdruck seiner endlosen Kreativität. Etwas davon scheine ich schon als kleiner Knirps begriffen zu haben. Es gibt ein Bild von mir als Vierjähriger, wie ich selig auf einem kleinen Schemel stehe und der Platte zuhöre, die sich neben mir auf dem groovigen 60er-Jahre-Deck dreht. Meine Eltern sagen, ich habe stundenlang so dastehen können – komplett verloren in der Musik.
Ich war damals noch so klein, dass ich mich kaum an die konkreten Platten erinnern kann, die ich hörte, aber ich weiss, dass «D Zäller Wiehnacht» und Mahalia Jacksons «Silent Night» wichtig waren und dass es ein ganz besonderer Moment war, als sich meine Mutter – ganz für sich selbst – Abbas «I Have a Dream» leistete, weil ihr der Song so gefiel. Entscheidend war dann auf jeden Fall später in meiner Jugend, am legendären Vindonissa-Festival die grossartige Pianistin und Sängerin Chi Coltrane live zu erleben und dass mir mein grosser Bruder zum sechzehnten Geburtstag «The Köln Concert» von Keith Jarrett schenkte, nachdem ein paar Jahre zuvor durch wundersame Umstände ein Klavier in unser Haus gekommen war und mich sofort in seinen Bann gezogen hatte. Heute, bald fünfzig Jahre nach dem Foto mit dem Plattenspieler, erlebe ich auch als Berufsmusiker immer noch regelmässig diese Momente, wo ich mich in der Musik vergessen und einfach nur geniessen kann, was sie mit mir macht – wie z.B. vor ein paar Tagen im Konzert der fantastischen schwedischen Band Dirty Loops in Zürich. Wahnsinn. Doch was ist es eigentlich, etwas genauer betrachtet, was Musik mit uns macht? Hier sind einige persönliche Anklänge aus meinem eigenen Erleben:
Botschaft
Musik kommuniziert. Sie sendet eine Botschaft von Musikerin zum Zuhörer (als Musiker würde ich ergänzen: … und wieder zurück). Sie ist eine globale, zutiefst menschliche, menschenverbindende Sprache, die auf einer anderen Ebene operiert als Worte – ganz egal, in welcher Stilrichtung. E.T.A. Hoffmann sagt sogar: «Wo die Sprache aufhört, fängt die Musik an.» Yehudi Menuhin nannte sie die «Muttersprache aller Menschen». Oder Victor Hugo noch etwas dringlicher: «Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber es unmöglich ist, zu schweigen.» Das kennen wir alle – und wir geniessen diese Herzenssprache, die Dinge in uns anspricht und verstärkt, für die wir oft keine Worte finden. Auf die unendlich vielfältigen Botschaften der Musik reagieren wir mit unendlich vielfältigen Gefühlen und spüren dabei die Lebendigkeit unserer Seele. So ist es nicht verwunderlich, dass kaum ein menschliches Fest ohne Musik denkbar ist, keine Feier von der Geburtstagsparty bis zur Abdankung, kein Gottesdienst, kein Film, kein Klassenlager, keine Liebesgeschichte, kein Himmelhoch-Jauchzend und kein Zu-Tode-Betrübt. Dass die Musik damit selbstverständlich auch das Potenzial zur Manipulation und zur kaltherzigen Geldmacherei hat, erwähne ich hier nur der Vollständigkeit halber. Quincy Jones bemerkte dazu schlicht: «God walks out of the room when you’re thinking about money.» (Gott verlässt den Raum, wenn es dir ums Geld geht.)
Begleitung
Musik nistet sich in unseren Herzen ein und begleitet uns durchs Leben. Wenn zu einer bestimmten Zeit Musik zu uns kommt, die in ihrer Emotionalität unserer eigenen Erfahrung entspricht, kann sie dieser eine «Gefühlsheimat» bieten, die wir immer wieder besuchen können – oder, im negativen Fall, besuchen müssen: Es gibt ein wunderbares Album von Hadley Hockensmith, das ich nie mehr hören kann, ohne sofort in einen mehrwöchigen Landdienst zurückversetzt zu werden, den ich als 18-Jähriger todunglücklich absass … Viel häufiger allerdings sind Lieder und Musikstücke in meiner persönlichen Schatzkammer, die mich an besonders bewegende, wertvolle, entscheidende Momente
auf meinem Weg durchs Leben erinnern. Solche Schätze tragen wir alle in uns und sie dienen uns als Kraftquellen, als Sehnsuchts-, Trost- und Ermächtigungsorte, zu denen wir heutzutage jederzeit zurückkehren können, wenn wir sie brauchen – ein grosses Privileg, im Zeitalter der jederzeit reproduzierbaren Musik zu leben! Ein grosses Privileg darüber hinaus auch, solche Schätze aufgrund von gemeinsam gemachten Musikerlebnissen mit anderen Menschen zu teilen.
Verbindung
Musik verbindet uns, indem wir gemeinsam erleben, was sie in uns auslöst – im Konzert, in der guten Stube, im Gottesdienst, im Stadion, im Chor. Es gibt wunderbare Studien dazu, wie musikalische Schallwellen, die gleichzeitig auf die Ohren von Menschen treffen, nicht nur deren Trommelfelle quasi synchronisieren, sondern auch deren Atem und sogar deren Herzschlag. Musik hat also die Kraft, unter uns Verbindungen auf ganz grundlegender Ebene herzustellen, deren Wert für gelingendes Miteinander nicht überschätzt werden kann. Wer schon je in einem Chor gesungen hat, weiss um diese verbindende Kraft und darum, wie sie uns im Tiefsten stärken kann. Es ist für mich als Co-Leiter von «Gospel im Centrum», der offenen Chorarbeit der evang.-ref. Kirchgemeinde St. Gallen, immer wieder neu bewegend zu erleben, wie unsere vielen Sängerinnen und Sänger nach anstrengenden Arbeitstagen oft relativ müde zur Probe erscheinen (ich eingeschlossen …), um diese nach zwei Stunden intensiven Singens mit neuer Energie zu verlassen – Akkus quasi aufgeladen durch das gemeinsame Singen, die dadurch entstandene Gemeinschaft und durch die Begegnung mit dem Schöpfer der Musik überhaupt, um den es in unseren Songs geht.
Faszinierend ist für mich an der verbindenden Qualität der Musik darüber hinaus, dass diese nicht nur jeweils an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit wirkt, sondern auch quer über Raum und Zeit hinaus. Einen emotionalen Zugang zu Musik aus anderen Ländern, Kulturen und Zeiten zu finden, stärkt mein Bewusstsein, Teil der ganz grossen Menschheitsfamilie zu sein, dazuzugehören, weiterzutragen, mitzugestalten. In einer alten Kirche einen Choral von Paul Gerhardt zu singen und mir bewusst zu werden, dass dieses Lied höchstwahrscheinlich genau an diesem Ort von Glaubensgeschwistern auch schon vor ein-, zwei- und dreihundert Jahren gesungen wurde, verbindet mich auf besondere Weise mit der «Wolke von Zeugen», von der Paulus spricht, die mich unsichtbar umgibt und meine Identität als Christ. Noch viel weiter zurück reichen selbstverständlich die entsprechenden Verbindungen, die uns die Psalmen ermöglichen (wobei ich schon unglaublich gerne auch mal hören würde, wie diese ursprünglich gesungen und geklungen haben mögen!). Auf der «horizontalen» Ebene hat moderne, globale Worship-Musik eine ähnliche Wirkung, indem sie die Singenden durch Songs verbindet, die sich in Windeseile auf der ganzen Welt verbreiten.
Bewegung
Musik rührt unser Inneres an und setzt damit unser Äusseres in Bewegung – vom Gefühlsausdruck im Gesicht über ein leichtes, gediegenes Wiegen des Kopfes und diskretes Zucken des grossen Zehs im klassischen Konzert, vom Schnippen im Jazzclub über den Sidestep im Gospelchor bis hin zum selbstvergessenen Ganzkörpertanz im lauten Popkonzert. Herrlich. Die Regung unserer Seele wird so stark, dass sie sich selbst wieder durch den Körper ausdrücken will. Für mich als Jazz- und Popmusiker ist hier besonders wertvoll und spannend zu sehen, wie durch die tragische Geschichte der Sklaverei in den USA ein afrikanisches, körperliches Rhythmusverständnis auf europäische Musikkultur traf und damit der grandiose Grundstein gelegt wurde für das, was wir heute unter «Popularmusik» verstehen: Spirituals / Blues / Jazz / Gospel / Soul / Funk / Rock / Pop. In meinem Verständnis verbindet alle diese Stilrichtungen in erster Linie das zentral wichtige Element «Groove»: dieses scheue Wesen, das ein gemeinsames, körperliches Pulsverständnis erfordert, kombiniert mit scheinbar mühelosem, präzisem rhythmischem Zusammenspiel der verschiedenen Instrumente – und das dann eine rhythmische Energie hervorbringt, der sich kaum jemand entziehen kann.
Leistung
Apropos «erfordert» – eine kleine Innenansicht dessen, was in einer Musikerin, in einem Musiker auf der Bühne vor sich geht: Musikmachen ist anspruchsvoll und verlangt so einiges. Wer auftritt und das Publikum mit seiner Kunst berührt, hat in der Regel unzählige Stunden einsamer Arbeit hinter sich, in denen er mit sich, seinem Instrument und der Musik gerungen hat – einerseits, um das aktuelle Konzertprogramm zu beherrschen, aber vor allem auch (schon viel früher und länger!) um sich die grundlegende Technik anzueignen, die beseeltes Musizieren erst ermöglicht. Früher habe ich mich manchmal leise geärgert, wenn Menschen mir nach Auftritten sagten: «Weisst du, bei dir fliesst die Musik so ganz von alleine!» Und ich habe für mich gedacht: «Wenn du wüsstest …» Heute ist das für mich das schönste Kompliment, weil es mir signalisiert, dass ich meine Multitasking-Aufgabe auf der Bühne zumindest so bewältigt habe, dass sie weniger anspruchsvoll wirkte, als sie für uns Musiker ist: «tote» Zeichen auf dem Notenpapier mit Leben zu füllen, gegebenenfalls aus dem Moment heraus eigene, neue Töne zu finden, sein eigenes Spiel sicher zu gestalten und sich dennoch der Emotionalität der Musik hinzugeben, die Orientierung im Ablauf der Musik zu bewahren, sich gleichzeitig in den beiden separaten «Koordinatensystemen» Rhythmik und Harmonik jederzeit des Ursprungs, der «Eins» gewiss zu sein, den eigenen Klang zu kontrollieren und geschmackvoll zu gestalten, gleichzeitig den Gesamtsound im Blick zu behalten und – ganz entscheidend – bei alledem mehr den Anderen zuzuhören als sich selbst. Kein Wunder sind wir nach einem gelungenen Konzert zwar glückselig, aber auch durchgeschwitzt.
Transzendenz
Musik verweist über sich hinaus. Sie ist ein «Geschenk aus einer anderen Welt», wie Gustav Mahler es ausdrückte. Ich kann das alles, was Musik mit mir macht, nur als Gottes Gegenwart und sein Wirken in meinem Leben sehen. Sie übersteigt als Gesamtheit meinen eigenen menschlichen Erfahrungs- und Erkenntnishorizont so weit, dass ich sie unmöglich nur als natürliches Phänomen einordnen kann. Dieser Umstand selbst ist für mich ein Glücksfall. Er erlaubt mir, meine Dankbarkeit für die Musik an jemanden zu richten. So gesehen ist mein eigenes Musizieren immer ein Dank an ihren Schöpfer, ein Lob Gottes für dieses unaussprechlich wunderbare Geschenk. Ich finde es grossartig, dass Johann Sebastian Bach seine Werke mit soli deo gloria unterschrieb – allein Gott sei die Ehre. Für mich passt das zu Bachs h-Moll-Messe genauso wie zu dem Moment, in dem Dirty Loops mit ihrem unfassbaren Groove den ganzen Saal zum Kochen bringen.