Von Michael Wiesmann
Die Wahrheit zu sagen und ehrlich zu sein – das bedeutet mehr, als nicht zu lügen. Aber einfach immer alles frei heraus zu sagen, ungeachtet der möglichen Konsequenzen, bringt oft mehr Schaden als Nutzen. Unser Autor ist überzeugt: Erst Ehrlichkeit sich selbst gegenüber lässt zu, dass wir Klartext reden können.
Wer mich kennt, weiss: Ich bin von Haus aus ziemlich frei heraus. Meine direkte Art, gepaart mit einem kräftigen Schuss Tessiner Temperaments kommt jedoch nicht immer gut – und auch nicht immer gut an, dessen bin ich mir durchaus bewusst. «Schön reden», um damit etwas schönzureden, das liegt mir dementsprechend nicht sonderlich. Von daher kam bei mir eine beinahe diebische Freude auf, als ich gefragt wurde, über dieses Thema etwas zu schreiben: Endlich mal Klartext! Genau mein Ding. Dachte ich wenigstens.
Die Freude währte jedoch nicht sonderlich lange. Beim genaueren Nachdenken wurde mir klar, dass ich mit meinen ersten Gedanken zum Thema auf dem besten Weg war, meine eigene Art und meine Sicht der Dinge schönzureden. Damit wäre das hier sozusagen zu einem christlich begründeten Persilschein dafür geworden, alles und jeden mit der «Wahrheit» – auch bekannt als «eigene Meinung» – vor den Kopf zu stossen und gegebenenfalls auszuknocken. Natürlich alles nur um der Ehrlichkeit willen. Ja, ich bin (und bleibe wohl auch) ein grosser Freund von offener, ehrlicher und direkter Kommunikation. Umso mehr hätte ich nicht gedacht, dass ich das mal so sagen würde: Direkt ist nicht unbedingt dasselbe wie offen und ehrlich, und Ehrlichkeit vielleicht nicht zwangsläufig und in jedem Fall direkt.
Warum ich das alles schreibe? Ganz einfach: Der Ehrlichkeit halber. Ich hätte diese kurze Einleitung durchaus weglassen können. Aber es hätte sich wie eine Unterschlagung, ja wie ein Etikettenschwindel angefühlt. Denn so sehr ich Ehrlichkeit schätze, so sehr ich mich auch um sie bemühe: An irgend einem Punkt stolpere ich dennoch über mich selbst. Ich meine, ehrlich und ungeschönt zu sein – verwechsle dabei aber ehrlich mit voreingenommen und ungeschönt mit brüsk.
Damit wären wir bei der an sich einfachen, aber nicht eben gemütlichen Feststellung: Wir haben es alle mit dem Gebot der Wahrheit nicht ganz so, wie wir es sollten. «Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen», schreibt Paulus dementsprechend ungeschönt in Römer Kapitel 3, Vers 23. Wobei mir dabei die eine im englischen Sprachgebrauch übliche Übersetzung hier besser gefällt: «fall short» für ermangeln. Sinngemäss dasselbe, aber wörtlich «zu kurz ausfallen ». Das gefällt mir deshalb, weil es so schön bildlich ist. Ich stell mir das gerne so vor, dass wir versuchen, über die schmutzige Pfütze drüber zu springen – aber der Sprung ist zu kurz und wir fallen mitten hinein in das trübe Nass.
Wenn wir über ungeschönte Ehrlichkeit reden, sollten wir uns zum Vornherein bewusst sein (und mit Vorteil auch bleiben), dass wir alle, mit all unseren Bemühungen schlussendlich zu kurz ausfallen. Willkommen in der Pfütze.
Was ist ehrlich?
Ehrlichkeit als Unterlassung von wissentlicher Lüge zu definieren, wäre eine ziemlich defizitäre Angelegenheit. Sind wir ehrlich, wenn wir etwas unterschlagen, das für uns oder unser Gegenüber unangenehm oder gar schmerzhaft sein könnte? Oder wenn wir die Tatsachen beschönigen und um den heissen Brei herumreden? Jesus legt da gehörig vor, wenn wir in Johannes 15 lesen: «Ich aber nenne Euch meine Freunde, denn ich habe euch alles gesagt, was ich vom Vater gehört habe.» Alles. Nicht nur das Angenehme und Erfreuliche. Bedeutet das nun für uns, dass wir immer alles frei heraus sagen sollen, ungeachtet der möglichen Konsequenzen und ohne Rücksicht auf unser Gegenüber und allenfalls weitere Beteiligte?
Ich habe diese Art von Ehrlichkeit wiederholt erlebt und zugegebenermassen in gewissen Situationen auch selbst praktiziert. Und während es manchmal – trotz aller «Nebenwirkungen » – für alle Beteiligten letztendlich befreiend war, ging der Schuss in anderen Fällen gehörig nach hinten los und der Schaden war grösser, als was durch die vermeintliche Ehrlichkeit gewonnen war. Das mit dem «alles sagen» hatte nicht funktioniert. Was die Vermutung nahelegt, dass es weniger darum geht, einfach immer alles zu sagen – sondern woher wir das haben, was wir sagen.
Was Jesus uns gesagt hat, war das, was er von seinem Vater gehört hat. Es spielt also eine wesentliche Rolle, von wo wir etwas haben. Wie oft ist es unsere eigene Wahrnehmung – und wie oft kommt es von Gott? Und selbst dann, wenn wir davon ausgehen, dass etwas von Gott kommt: Wir sind nicht Jesus und können nicht einfach ungefiltert weitergeben, was Gott uns sagt. Nicht wegen ihm – sondern wegen uns. In der Kommunikation hängt die Qualität der Übertragung einer Botschaft ebenso sehr vom Empfänger wie vom Sender ab. Und wir sind nicht immer ganz so verlässliche Empfänger. Unser eigenes «statisches Rauschen» da herauszufiltern, ist leichter gesagt als getan.
Dafür müssen wir erst einmal lernen, zwischen dem eigenen Rauschen und der eigentlichen Botschaft zu unterscheiden. Heisst: Wir müssen unser eigenes Rauschen, unsere Nebengeräusche, unsere Tendenzen und Schlagseiten, Schwächen und dunklen Flecken kennen. Der Filter, den wir brauchen, ist also Ehrlichkeit – und zwar mit uns selbst.
Ehrlichkeit beginnt bei uns
Eigentlich ist es die alte Geschichte vom Splitter und dem Balken im Auge. Ehrlich mit sich selbst zu sein heisst, die eigenen Balken (und mal ehrlich: es ist eigentlich immer mehr als nur einer) zu kennen und sich einzugestehen. Manche dieser Balken und Splitter können wir uns ziehen lassen – wenn wir Gott denn lassen. Aber ab und zu werde ich wenigstens bei mir selbst das Gefühl nicht los, dass ich das eine oder andere dieser Holzfragmente eigentlich irgendwie mag und daran hänge. Ich rede mir die Sache einfach schön: Die gehören nun mal zu mir. Ich bin ja nur ehrlich, oder wie es etwas trendbewusster heisst: authentisch. Aber bin ich das wirklich, oder ist das nicht eher eine Rechtfertigung dafür, mir den Schmerz des Ziehens zu ersparen und einfach alles beim Alten zu belassen?
Und dann lassen sich da auch noch Balken und Splitter finden, derer ich mir gar nicht bewusst bin. Blinde Flecken im doppelten Wortsinne also: zum einen, weil sie meine Sicht trüben; und zum anderen weil ich sie selbst nicht sehen kann und sie so vor mir verborgen sind. Und weil ich sie selbst nicht sehen kann, fällt es mir umso schwerer, mir diese einzugestehen, wenn ich darauf angesprochen werde. Das läuft dann bei mir innerlich meist in etwa so ab: «Was, ich hab da einen blinden Fleck? Was weisst du denn schon? Du siehst ja selber kaum mit den Linsen zur Brille, geschweige denn bis zum Gartenhäuschen vor deinem Gesicht.» Es stimmt schon: Der andere hat auch blinde Flecken und vermutlich ebenso viele Splitter und Balken im Auge wie ich. Aber darum geht es gar nicht. Sondern darum, dass ich Mühe habe mir selbst einzugestehen, dass da was ist – bei mir, und nicht beim anderen.
Nicht nur bei denjenigen «hölzernen Sehbeinträchtigungen », an die ich mich irgendwie schon gewöhnt habe und fast schon freundschaftlich pflege. Auch bei denjenigen, die ich bisher nicht wahrgenommen habe und für die ich keine mehr oder weniger charmante Ausrede auf Lager habe. Dieses Eingeständnis schmerzt – und macht vor allem äusserst verletzlich, weil ich ja gerade da schon verletzt bin.
Ehrlichkeit braucht Heilung
Hätten wir einen echten Balken in unserem echten Auge, würden wir wohl notfallmässig einen Augenarzt aufsuchen. Und dasselbe sollte eigentlich auch ganz selbstverständlich für die Balken und Splitter in unseren Herzensaugen und Gott gelten. Aber das wird mit Sicherheit etwas mehr als nur eine ambulante Behandlung werden. Eher ein lebenslanger Prozess von Entfernung, Verbinden und Wundpflege. Und dann kommen irgendwie auch immer wieder neue Splitter dazu. Wenigstens geht es mir so: Kaum denke ich, dass mir Gott einen Splitter gezogen hat, kommt der nächste, meist noch hässlichere zum Vorschein. Von daher dürfen wir, ja müssen wir wohl – bwei aller Ehrlichkeit mit uns selbst – mit uns auch geduldig sein. Keine Bange: Gott ist es auch. Und bereits das Wissen um diese Splitter und Balken ist wertvoll und heilsam – und hat allem voran eine kaum zu übertreffende präventive Wirkung.
Der Volksmund kennt nicht vergebens die Wendung von der «entwaffnenden Ehrlichkeit ». Denn genau das macht Ehrlichkeit: Sie entwaffnet. Und wenn wir mit uns selbst ehrlich sind, entwaffnen wir uns selbst. Da kann man sich plötzlich ganz schön wehrlos vorkommen. Aber wenn wir wirklich miteinander ehrlich sein wollen – ohne irgendwelche Beschönigungen und Schönfärbereien, Auslassungen und Unterschlagungen – müssen wir zuerst mit uns selbst ungeschönt ehrlich werden. Also erst vor der eigenen Haustüre kehren, respektive uns um unsere eigenen Balken kümmern. Und auch dann werden wir die vermutlich zeitlebens nicht alle los. Und bei den anderen, die entfernt wurden, können wir das kaum auf unser eigenes Konto verbuchen.
Ehrlichkeit braucht Gnade
Ehrlichkeit mit uns selbst entwaffnet uns – und sie wirft uns damit zurück auf die Gnade. Oder wie Paulus gewohnt ungeschönt im Römerbrief schreibt: « Da ist keiner, der verständig ist. Alle sind sie abgewichen.» Das Einzige, was uns bleibt, ist der Glaube, also das Vertrauen auf Gott und seine Gnade über unseren Leben. Das erst schafft den Freiraum und die Freiheit, dass wir ehrlich mit uns selbst sein können, ohne letztlich an uns selbst und unserer Unvollkommenheit zu verzweifeln.
Echte, ehrliche Begegnungen werden erst unter dem Vorzeichen der Gnade möglich. Erst wenn es nicht mehr darum geht, sich die eigenen Splitter und Balken schönreden zu müssen, um nicht ganz so schlecht dazustehen, schafft den Raum, mit sich selbst und miteinander wirklich ehrlich zu sein – ungeschönt, ohne Vorenthaltungen, aber auch unbewaffnet und verletzlich. Diese Ehrlichkeit wird nicht immer angenehm sein, vielleicht manchmal direkt, unangenehm oder sogar schmerzhaft. Aber letztendlich immer eine feinfühlige, ja zärtliche weil eben gnädige Ehrlichkeit.
Endlich mal Klartext!
Ja, wir sollten öfters mal Klartext reden. Und zwar zuallererst mit uns selbst. Wer Ehrlichkeit als nassen Lappen missbraucht, um diesen seinen Mitmenschen um die Ohren zu hauen, missbraucht letztendlich Gottes Gnade – im eigenen Leben und in demjenigen des anderen. Denn mit uns selbst ehrlich zu sein, bedeutet immer, im Vertrauen zu Gott seine Gnade für uns zu empfangen. Und Ehrlichkeit mit unseren Mitmenschen, das Geschenk dieser Gnade weiterzugeben. Alles andere ist nicht wirklich ehrlich. Weder mit uns noch mit unserem Nächsten.
«Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben», also von unserem himmlischen Vater (Jakobus 1,17). Soll unsere Ehrlichkeit echt sein, muss sie demnach vollkommen sein. Nicht gerade ein bescheidener Anspruch. Und damit dürfte klar sein, dass wir mit unserer eigenen, menschlichen Ehrlichkeit nicht sonderlich weit kommen. Was wir brauchen ist die Art von Ehrlichkeit, die aus der vertrauens- und liebevollen Beziehung mit Gott und der verändernden Kraft seiner Vergebung wachsen und gedeihen kann – erst in unseren eigenen Leben, und von dort aus in unserem Miteinander.