«Du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren; du sollst nicht die Frau deines Nächsten begehren oder seinen Knecht oder seine Magd oder sein Rind oder seinen Esel oder irgendetwas, das deinem Nächsten gehört.» (2. Mose 20,17)
Dieses letzte der Zehn Gebote richtet sich nicht auf äusseres Verhalten wie Mord (Gebot 6), Ehebruch (Gebot 7), Diebstahl (Gebot 8) oder Lüge (Gebot 9), sondern auf den inneren Antrieb. Es fügt den vorangehenden Geboten nicht ein zusätzliches Gebot hinzu, sondern fasst diese zusammen. Es benennt die Quelle, die zur Übertretung der anderen Gebote führt: das Begehren.
Einige Beispiele aus der Bibel: Bevor Eva von der verbotenen Frucht isst, begehrt sie diese (1. Mose 3,6). Bevor Achan zum Dieb wird, begehrt er den kostbaren Mantel, das Silber und das Gold (Josua 7,21). Bevor David zum Mörder und Ehebrecher wird, begehrt er die Frau eines andern (2. Samuel 11–12). Allgemein formuliert: «Wenn die Begierde schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt. Die Sünde aber, wenn sie ausgereift ist, gebiert den Tod.» (Jakobus 1,15).
Begehren ist der Beziehungskiller Nummer eins. Das Begehren sucht den Besitz, nicht die Beziehung. Es hat nicht den Nächsten im Blick, sondern seine Habe. Wer begehrt, ist nicht am Mitmenschen interessiert, sondern am Gewinn, den man sich durch ihn erhofft. Solches Begehren gibt es auch in der Beziehung zu Gott, wenn man mehr an der Gabe Gottes interessiert ist als am Geber selber. Genau diese begehrliche Haltung Gott gegenüber führt zum Götzendienst und zum Missbrauch des göttlichen Namens (1.–3. Gebot).
Wer begehrt, kann nicht schenken und beschenkt werden, weil der Begehrende alles, was er hat und empfängt, wie seinen Besitz festklammert. So wie der Hobbit Smeagol in «Herr der Ringe»: Er begehrt den «Ring der Macht» so stark, dass er deshalb zum Mörder wird. Der Ring, den er beständig «seinen Schatz» nennt, nimmt sein ganzes Denken und Leben in Beschlag. Er vegetiert in äusserster Finsternis und Einsamkeit vor sich hin, entartet zum schizophrenen Gollum und ist nicht mehr beziehungsfähig.
Wer begehrt, kann nicht lieben und geliebt werden, weil der Begehrende kein Sensorium für das «Du» hat. Man kann nicht den Nächsten lieben und seine Habe begehren. Damit wird deutlich: So wie im Begehren die Quelle der Übertretung der göttlichen Gebote liegt, so liegt in der Liebe deren Erfüllung. Denn die Liebe sucht das «Du», sieht den Nächsten, schafft Beziehung. Das Verbot des Begehrens lautet daher positiv gewendet: «Liebe Gott – und liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!» (Matthäus 22,37–40).