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Da sitzt ein Engel in meinem Auto

Publiziert: 16.10.2014

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Wir haben Sehnsucht nach allem, was übersinnlich ist. Das steckt in uns drin, irgendwie. Sogar Menschen, die vor Rationalität nur so strotzen, beschäftigen sich mit Phänomenen unterschiedlichster Art. Eine Geschichte, ein unerklärbares Ereignis – und schon schlägt unsere Phantasie Purzelbäume.
 
Wir alle wären gerne Zeuge von ganz besonderen Ereignissen. Das ist bestimmt auch der Grund, weshalb TV-Sendungen wie «Akte X», «Lost» oder «X-Factor» beim Publikum so beliebt sind. Oder ein Wunder, wenigstens ein klitzekleines, das würden wir doch gerne einmal miterleben. Warum auch nicht. Schliesslich ist auch die Bibel voll von übernatürlichen Ereignissen und Wundern. Das begann schon im Alten Testament. Die zehn biblischen Plagen waren ja schon etwas unheimlich. Plötzlich Wasser zu Blut und für sieben Tage ungeniessbar, bloss weil Moses mit seinem Stab auf das Wasser im Nil schlug. Also hätte ich damals gelebt, ich hätte bestimmt Nacht für Nacht Albträume gehabt.
 
Aber es gibt auch die positiven übernatürlichen Ereignisse, die so manche Männer und Frauen aus dem israelitischen Volk ins Nachdenken brachten. Denken wir nur an die Teilung des Roten Meeres, als die Verfolger dem Volk Gottes im Nacken sassen. Oder später, als Jesus Wasser zu Wein machte. Das hat sicher manchen gefallen. Vergessen wir nicht alle Wunderheilungen. Und dann waren da noch Engelserscheinungen. Zum Beispiel Engel, die in Gefängnissen Türen öffneten. Davon träumen sicher viele Häftlinge. Übernatürliches, Seltsames, Wunder – alles Ereignisse, die in uns die Sehnsucht wecken, auch mal dabei zu sein.
 
Diese Sehnsucht erklärt vielleicht auch, weshalb es so viele sogenannte Wanderlegenden gibt. Das sind Geschichten, die wahr, nicht wahr oder ein bisschen wahr, seltsame Ereignisse zum Besten geben. Die gibt es auch unter Christen und vorzugsweise in der sogenannten «Saure- Gurken-Zeit».
 
Folgende Wanderlegende taucht immer wieder auf. Jemand fährt im Auto durch die Nacht, durch einen Tunnel. Plötzlich nimmt die Person wahr, dass auf dem Nebensitz ein Engel sitzt. Es passiert nichts, aber anderntags «hätten diese Personen gehört», dass es laut Autobahnpolizei just zu jenem Zeitpunkt fast einen Unfall in jenem Tunnel gegeben hat. Diese Geschichte habe ich sicher schon zehn Mal gehört. Ganz ehrlich – wenn ein Engel mich beim Autofahren beschützen soll, ist es mir lieber, wenn ich ihn nicht sehe. Wäre das der Fall, würde ich möglicherweise vor lauter Schreck mein Auto in die Tunnelwand lenken.
 
Politisch motivierte Wanderlegenden
Manche Wanderlegenden sind allerdings auch politisch-religiös gefärbt und bringen zum Ausdruck, wie gross teilweise die Angst zum Beispiel vor Muslimen ist. So wird erzählt: Eine Frau fand an einer Supermarktkasse in Strassburg einen Aktenkoffer. In diesem Koffer fand sie Bündel von 100-Dollar-Scheinen. Schnell rannte sie mit ihrem Kind an der Hand dem Araber hinterher, der vor ihr in der Schlange gestanden hatte. Aus lauter Dankbarkeit flüsterte der Ausländer der jungen Frau ins Ohr: «Gehen Sie nächste Woche besser nicht auf den Weihnachtsmarkt. Dort wird etwas Schreckliches passieren.»
 
Diese Geschichte beinhaltet alles, was eine gute Wanderlegende ausmacht. Die junge Frau steht für Emotionen, und mit ihrem Kind an der Hand und ihrem Blick in den Koffer für Schwäche. Der Supermarkt vermittelt einen Platz, an dem viele Menschen sind – also ein idealer Ort für einen Anschlag. Die 100-Dollar-Scheine vermitteln Macht. Eine Geschichte, die sich ideal eignet, um Hass zu verbreiten.
 
Heute «wandern» Wanderlegenden nicht mehr
Heute müssen diese Geschichten nicht mehr «wandern». Heute rasen diese «Wahrheiten» sozusagen in Echtzeit um den Erdball. Auf den Datenautobahnen von Internet, sozialen Medien und Tagesmedien. Und das macht es nicht besser. Doch was steckt denn hinter diesen Geschichten? Es ist die pure Sehnsucht nach aussergewöhnlichen Erlebnissen und Erfahrungen und der Ahnung, dass jemand Grösseres hinter diesen Ereignissen steckt. Es ist letztlich die Sehnsucht nach jemandem, der über einem steht. Deshalb glaube ich: Je näher ich bei Gott lebe, umso weniger Tamtam muss ich machen, wenn einmal etwas Aussergewöhnliches geschieht. Denn Wunder, Erlösung, Liebe, Vergebung – das ist Gottes «Kerngeschäft». Die Fixierung auf diese «spirituellen Grossereignisse» vernebelt leider oft den Blick auf die alltäglichen, gottgewirkten Wunder.

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