Von René Winkler
Sommer 2021. Die Pläne für unsere dreiwöchige Fahrradtour haben wir ein paar Wochen zuvor schweren Herzens ad acta gelegt. Der Rücken meiner Frau zwingt uns dazu. Wir stellen uns auf Wohnwagenferien ein. Drei Tage vor Ferienbeginn geht nichts mehr: Muskelkrämpfe im Rückenbereich. Unerträgliche Schmerzen. Pure Hilflosigkeit in alltäglichsten Dingen. Notruf 144 und bald darauf die Erkenntnis: Krebs hat zwei Lendenwirbel schwer beschädigt.
Über Wochen tägliche Besuche im Krankenhaus. Ich stehe neben den Schuhen. Das Leben zieht an mir vorbei. Die Welt dreht sich unbeeindruckt weiter. Meine Bedeutungslosigkeit ist mir selten so klar. Andere werden lachen, dass es mir erst jetzt dämmert. Es sind einsame Tage.
«Die negative Empfindung, von anderen Menschen getrennt zu sein.» So definiert jemand Einsamkeit. Genau so fühlt es sich für mich an! Und nicht nur das. Das Gefühl, von Gott abgeschnitten zu sein, weil sich verzweifelte Gebete im Himmel scheinbar ungehört verlieren, macht es doppelt schwer. Ich versuche tapfer zu sein, bin es aber längst nicht immer. Mein Tagebuch füllt sich mit vielen Fragen, Klagen. Auch sterbende Vorstellungen, wie wir als Ehepaar die nächsten Jahre gemeinsam gestalten wollten, bekommen hier Ausdruck. Manche Gebete gebe ich Gott schriftlich.
Jetzt, acht Monate später, bin ich von viel Gutem überrascht: das hoffnungsvolle Mitleiden von Familienangehörigen, Freunden, alten und neuen Weggefährten. Das fast mit Händen zu greifende Bewusstsein und die Freude während einer gemeinsamen Anbetungszeit im Gottesdienst, dass wir Teil der himmlischen Anbetungsgemeinschaft sind; was jenseits unseres sichtbaren Gottesdienstes ist, ist viel grösser und herrlicher als alles Leben hier und jetzt. Die Gelassenheit und der Friede, in der meine Frau hinnimmt, was geschieht. Sie ist nicht von der Angst bedrängt, was alles noch zerbrechen und verloren gehen könnte. Der Wert der beruflichen Aufgaben, die meinem Alltag Struktur geben und es gar nicht zulassen, dass ich die meiste Zeit nur an mich und uns denken kann. Wie wohltuend alltägliche Normalität doch sein kann!
Einige meiner Überzeugungen sind in diesen Monaten noch stärker geworden. Dazu gehört für mich als eher introvertierter Mensch der Wert der Gemeinschaft. Das Leben teilen mit andern: erzählen, was wir haben und insbesondere auch was wir nicht haben. Den «abgesicherten Modus» aufgeben. Die eigene Armut und Bedürftigkeit offenlegen. Formulieren, was ich lernen und wohin ich wachsen will.
«Kirche, lebendige Gemeinschaft um Jesus Christus, ist immer auch Erzählgemeinschaft. Es ist ein Geheimnis um das Erzählen, um das Mitteilen dessen, was wir miteinander erlebt haben, denn Erzählen ist menschlich – und Erzählen macht menschlich. Erzählen benötigt Zeit – und Erzählen überwindet die Zeit. Erzählen braucht Gemeinschaft – und Erzählen schafft Gemeinschaft. Wo Menschen Anteil geben können an dem, was ihnen widerfahren ist, da wachsen aus dem Hören und Reden Horizonte der Hoffnung und Heilung.»
Gott braucht mich nicht als Helden, der souverän durch alle Krisen des Lebens schifft. Er stellt mich in Gemeinschaft und lädt mich ein, mein Leben zu teilen – samt aller Armut und allen offenen Fragen. Mein Weg aus der Einsamkeit führt über Gemeinschaft, wo man sich begegnet und nicht nur trifft.
Zur Person
René Winkler ist Leiter Weiterbildung des Theologischen Seminars St. Chrischona (tsc). Sein Herz schlägt für die Gemeinde und das Fördern von Erwachsenen und Führungskräften.
Serie «Gott ist …»
Wie oder wer ist Gott eigentlich? Diese Frage beschäftigt die Menschen schon lange. In der Bibel werden unterschiedliche Bilder gebraucht, um Gott zu beschreiben. In einer Serie teilen Theologinnen und Theologen aus verschiedenen Denominationen ihre Vorstellungen, wie Gott ist.