Selten habe ich es so bedauert, dass man sich nicht einfach freuen konnte. Freuen über Aussagen wie «In der Liebe liegt die Macht zu helfen und zu heilen, wenn nichts anderes mehr hilft. In der Liebe liegt die Macht aufzustehen und sich zu befreien, wenn nichts anderes es schafft. In der Liebe liegt die Macht, die uns zeigt, wie wir leben können. Das ist das Siegel auf dem Herzen, das Siegel auf dem Arm.» Diese Worte sind Evangelium pur und hätten die Begleitworte für Pfarrer Ernst Sieber auf dem Weg in die neue Welt sein können.
Liebe und Leidenschaft verändern die Gesellschaft
Wie Bischof Curry war auch «dä Pfarrer» ein leidenschaftlicher Mensch. Auch ihn konnte man kritisieren. Ich habe ihn mehrmals interviewt, und ich war jeweils froh, wenn ich wenigstens die Richtung des Gesprächs so leiten konnte, wie ich es mir gedacht hatte. Pfarrer Sieber liess sich von keinem Journalisten in irgendeine Ecke treiben. Er kommunizierte ganz nach dem Prinzip: «Ich sage, was ich sagen möchte, ich sage es und sage, was ich gesagt habe.» Er war für uns Journalisten immer ein «harter Brocken». Doch einmal, bei Filmaufnahmen, erlebte ich ihn auf der Gasse und bei einem Sterbenden. Da war er, dieser andere Pfarrer: ruhig, empathisch, interessiert, kein Wort zu wenig, keines zu viel. War das derselbe, den ich sonst auf der Bühne erlebt habe? Wenn Pfarrer Sieber mit seinen Randständigen zusammen war, kam diese Liebe zum Tragen. Dann wurde dieses «All you need is love» tatsächlich zur Hoffnung für Menschen, die aus dem Drogensumpf nur noch in die Hölle sahen. «Dä Pfarrer» führte die Augen dieser Menschen hin zu Jesus. Zu dem, der ihnen mit vollkommener Liebe begegnen wollte. An der Abdankungsfeier im Grossmünster waren diese Randständigen mitten im Publikum. Sie scheuten sich auch nicht vor Zwischenrufen. Manch einer der anwesenden Anzugsträger schaute dann doch etwas irritiert zu diesen Menschen hin.
Die Liebe für den Nächsten kennt keine Zensur
Bischof Curry und Pfarrer Sieber – beide hinterlassen eine klare Liebesbotschaft. Liebe muss gesellschaftsrelevant sein. Liebe darf nicht am Kreuz enden. So wie auch für Jesus das Kreuz nicht das Ende war. Das Kreuz war der Anfang und für viele Menschen unverständlich. Die Liebe muss spürbare Auswirkungen für Menschen haben.
Nicht nur für Christen, die leider zu oft in ihrem wohltemperierten Biotop bleiben. Natürlich ist es gut, wenn Christen zusammen gemeinsam Zeit verbringen. Wenn aber 90 Prozent meines Lebens ausschliesslich in diesem Umfeld stattfindet, geht das Gespür für die ganze Gesellschaft verloren. Dann werden Möglichkeiten, wie Bischof Curry sie hatte, nur noch auf die theologische Richtigkeit hin zensuriert.