Von Sarah-Maria Graber
Wir Schweizer lieben Sicherheit. Wir geben so viel Geld für Versicherungsprämien aus wie keine andere Nation im weltweiten Vergleich. Das lässt die Herausforderung erahnen, um die es in diesen Zeilen geht: Was, wenn wir die Kontrolle verlieren? Wenn unser Leben nicht so verläuft, wie wir es uns vorstellen und unsere Wünsche unerfüllt bleiben? Wenn Gott offensichtlich andere Pläne hat?
Fast unverschämt verspricht der Verfasser in Psalm 37: «Habe deine Lust am Herrn, so wird er dir geben, was dein Herz begehrt.» Das entspricht unserer konsumorientierten Zeit. Wohl keiner anderen Gesellschaft vor uns wurde in vergleichbar hohem Mass gegeben, was das Herz begehrt. Ich kenne keine leere Vorratskammer, erlebte noch nie lebensbedrohlichen Mangel und darf politisch mitbestimmen, wenn es um die Neubepflanzung einer Allee in unserem Stadtteil geht. Ist es zu dunkel, knipse ich das Licht an. Ist es zu kalt, stelle ich die Heizung höher. Ist das Radioprogramm langweilig, schalte ich um auf einen der fast 100 anderen Sender. Ich kenne keinen Verzicht, habe mich daran gewöhnt, dass ich bestimmen kann. In unserer überfütterten Welt ist Selbstbestimmung ein Luxus, den wir geheiligt haben. Von unseren Umständen lassen wir uns nicht bestimmen, weil wir sie bestimmen. Doch wir sind die erste Generation, die das erlebt. Unsere Möglichkeiten scheinen unbegrenzt, und entsprechend gross sind unsere Erwartungen daran, was uns das Leben bieten muss.
Sicher ist sicher …
Gleichzeitig gilt es, sich beruflich stetig weiterzuentwickeln, noch mehr in noch kürzerer Zeit zu liefern und permanente Höchstleistung auf Abruf zu vollbringen. Fehler und persönliche Krisen führen dabei zu ungeplanten Umwegen, die viel Zeit kosten. Also setze ich mich unter Druck, eine möglichst geschmeidige, gradlinige und planmässige Laufbahn zu gestalten, alle Bedürfnisse und Erwartungen verzweifelt unter einen Hut zu stopfen, lieber heute als morgen. Von der Geburt bis zum Tod polstern wir uns aus mit Sparkonto, Zusatzversicherung und Risikooptimierung, die uns wie Airbags vor den Ecken und Kanten des Lebens schützen sollen. Noch bevor wir zum ersten Mal Licht sehen und Luft atmen, durchlaufen wir im Mutterleib die ersten Risikotests mit Ultraschall und Fruchtwasserpunktion. Damit wir das Leben unserer Eltern nicht zu arg aus dem Rahmen reissen, ihre Sicherheiten und Pläne in geordneten Bahnen halten. Die medizinischen Möglichkeiten gehen weiter, auch nach der Geburt, bis ins hohe Alter. Sie bieten Hoffnung und Heilung für viele Krankheiten, die unsere Grosseltern noch das Fürchten lehrten. Heutige medizinische Standards erhalten uns dermas sen am Leben, dass sich immer mehr Menschen das Recht zum Sterben schon frühzeitig sichern. So haben wir sowohl Leben als auch Tod vermeintlich in unseren Händen.
Und plötzlich gerät die Welt aus den Fugen
Doch die Realität spricht oft eine andere Sprache: Wir haben es nicht im Griff. Plötzlich bläst bissiger Gegenwind in mein Gesicht, weil etwas passiert, womit ich nicht gerechnet habe. Und dann habe ich den Salat: Meine kleine Welt gerät aus den Fugen, ich stehe vor den Trümmern eines Lebens, das ich mir so nicht vorgestellt habe. Ein solches Ereignis war es, das meine Lebenspläne auf den Kopf stellte. Nach einer behüteten Kindheit zerstritten sich meine Eltern, meine meist gefürchtete Vorstellung traf tatsächlich ein: Ich wurde zum Scheidungskind. Der Zerbruch meiner Familie hat meine Kinderseele zerrissen, ich verlor den Boden unter den Füssen. Meine unverdorbenen Vorstellungen von einer harmonischen Familie und einem glücklichen Leben lösten sich damit in Luft auf. Ich wusste nicht mehr, was und wem ich glauben sollte. Das tiefe Loch führte mich zu einem harten Plan: Nie mehr sollte ein Mensch so viel Macht über mich haben, dass er mich verletzen könnte. Nie mehr würde ich mein Herz brechen lassen. Das Thema Beziehung, Ehe und Familie strich ich aus meinem Lebensplan. Und damit glaubte ich, mein Leben wieder im Griff zu haben. Doch das dunkle Loch breitete sich in mir aus zu einer Wüste und die Kruste um mein Herz verhärtete sich. Ich war innerlich am Verdursten, während ich besonders liebgewonnene Menschen mit besonders unausstehlichem
Verhalten in die Wüste jagte. Die Panik vor weiteren Verletzungen kämpfte einen erbitterten Krieg gegen mein Bedürfnis nach Zuneigung und Liebe. Irgendwann wusste ich: Wenn ich meine Pläne nicht aufgebe, lebe ich ein hartes, einsames Leben. Genau das Leben, vor dem ich mich fürchtete. Je mehr ich mich auf meine eigenen Möglichkeiten verliess, desto härter, bitterer und ängstlicher wurde ich. Ich sehnte mich mehr und mehr danach, mein Leben nicht selbst im Griff haben zu müssen. Ich sehnte mich danach, das Gute zu erwarten und dem Leben wieder vertrauen zu können.
Ist Gott vertrauenswürdig?
Die Theologin und Seelsorgerin Barbara Joss sieht vor allem zwei Gründe, warum wir Menschen uns so schwer tun, dem Leben und damit Gott zu vertrauen. Einerseits machen die meisten Menschen die ernüchternde Erfahrung: Sie erleben Leid. Ein geliebter Mensch stirbt, wird schwerkrank oder hat einen Unfall. Sie verlieren die Arbeitsstelle oder können keine Familie gründen. Gott räumt offensichtlich nicht alle Schwierigkeiten aus unserem Weg. Ist ein Gott, der uns das zumutet, überhaupt vertrauenswürdig? Andererseits seien wir alle geprägt von einer Theologie, einer bestimmten Sicht auf Gott, ob wir uns dem bewusst sind oder nicht: «Wenn meine Theologie Gott vor allem als den moralisch-heiligen Gott porträtiert – wie kann ich moralisch unvollkommener Mensch mich diesem Gott dann völlig anvertrauen? Wenn meine Theologie Gott vor allem als den durch und durch gerechten Richter versteht, der jedem gibt, was er verdient – wie kann ich mich diesem Richter gegenüber dann sicher fühlen? Wenn meine Theologie Gott vor allem als Liebe kennt – meine Erfahrung mir aber zeigt, dass nicht alles liebevoll ist – wie soll ich diesem Gott dann vertrauen?» So musste ich meine Theologie überdenken. Und meine Erfahrungen in ein neues Licht rücken. Meine Geschichte ist eingebettet in die grosse Geschichte der Menschheit. Die überlieferten Geschichten in der Bibel sind also auch Teil meiner eigenen Geschichte. Und sie stellen immer wieder unter Beweis: Gott ist treu. Gott ist gut. Gott ist mit uns. Er begleitet uns durch Täler und auf Berge. Und seine Wege werfen unsere menschlichen Vorstellungen immer wieder über Bord. Doch das ist kein Problem, weil er am besten weiss, was wirklich gut ist. Das hilft mir, in den Stürmen meines Lebens einen grösseren, weiteren Blick zu finden, mich zu entscheiden, mein Vertrauen in Gottes Treue zu bewahren und die Umstände meines kurzzeitigen Lebens nicht zu vergöttern.
Gottes Plan ist das Beste, was mir passieren kann
Meine Sicht auf Gott veränderte sich. Ich begann zu glauben, was die Geschichten der Bibel erzählen: Dass Gott es wirklich gut meint mit mir. Dass er der Ursprung ist von allem, was ich bin. Dass seine Gedanken über mich gefüllt sind mit Hoffnung, Vertrauen und Liebe. Und dass er folglich alles ist, was ich brauche, um ganz erfüllt zu sein. Dass sein Wille für mein Leben das Beste ist, was mir passieren kann. Damit ist kein Mensch, kein Ereignis und keine Planänderung mehr eine Bedrohung.
Also entschied ich mich, Gott zu vertrauen. Trotz panischer Angst fasste ich den Mut, die Kontrolle über mein Leben zu verlieren, mein Herz nicht mehr selbst vor Menschen zu schützen, mich stattdessen verletzlich zu zeigen und mich auf tiefe Freundschaften einzulassen. Und darauf zu vertrauen, dass Gottes Nähe und Treue auch in Zukunft meine seelischen Verletzungen heilen würden. Egal, was mir ein Mensch antun würde. Egal, welche Krankheit sich in meinem Körper ausbreiten würde. Egal, welche Umwege ich unter die Füsse nehmen würde. Konkret hiess das, dass ich in Gesprächen mit Freunden offen legte, dass ich mein Vertrauen in Gott verloren hatte und es zurück gewinnen wollte. Ich verabredete mich bewusst mit Menschen, denen ich Einblick in mein Leben geben wollte und erzählte ihnen von meinen inneren Kämpfen. Ausserdem öffnete ich mich für die Idee, vielleicht doch irgendwann eine Beziehung zu einem Mann zu haben und zu heiraten. Auch darüber redete ich mit meinen Freunden, obwohl es sich fremd und unglaublich beängstigend anfühlte. Und ich weinte viel. Sehr viel.
Wie anfangs zitiert scheint es Gott zu gefallen, uns zu geben, was unser Herz begehrt. Warum erfüllt er aber nicht alle unsere Wünsche? Die Theologin Barbara Joss betont den ersten Teil des Verses: «Habe deine Lust am Herrn, so wird er dir geben, was dein Herz begehrt.» Die Erfüllung von Wünschen werde in den Rahmen einer Liebesbeziehung mit Gott eingebettet. Aus dieser Beziehung heraus erfülle Gott, was sich unser Herz wünscht. Wobei sie darauf hinweist, dass Gott besser weiss als wir, wie er den Kern unserer Wünsche erfüllen kann. So werden unsere Vorstellungen vielleicht enttäuscht, aber unsere Wünsche trotzdem – oder gerade deshalb – bis ins Tiefste erfüllt. Gott sei kein Automat, der für einen gewissen Betrag unsere Wünsche ausspuckt. Ihm gehe es um eine innige Vertrauensbeziehung mit uns. Er sage kompromisslos und konsequent Nein zu allem, was diese Beziehung mit ihm stört und zerstört.
Heute kann ich dieses Prinzip am eigenen Leib nachvollziehen: Tatsächlich verliebte ich mich in einen Mann, wir heirateten und wurden vor einigen Monaten Eltern. Meine tiefe Liebe zu diesem kleinen Geschöpf lässt mich die Liebe von Gott zu uns Menschen erahnen. Ich liebe es, seine Bedürfnisse zu stillen. Wenn es weint, als würde die Welt untergehen, und allein meine Nähe sämtliche Wünsche zu erfüllen vermag. Und doch gibt es Wünsche, die ich ihm verweigere. Weil ich weiss, welche Konsequenzen sie nach sich ziehen. Zum Beispiel wenn die Neugier seine kleine Hand auf die heisse Herdplatte drängt. Oder wenn es das Putzmittel für ein Getränk hält. Ich hoffe auf sein Vertrauen in mich, dass ich gute Gründe habe, einige seiner Wünsche nicht zu erfüllen. Und halte seinen Frust mit viel Verständnis und Geduld aus, wenn es ein striktes Nein nicht verstehen kann.
Befreiende Ent-Täuschung
In meinem Prozess habe ich ausserdem erlebt, dass meine «Lust am Herrn» meine Wünsche verändert. An einer anderen Stelle in der Bibel wird dasselbe hebräische Wort verwendet und beschreibt die Szene eines Kindes an der Brust der Mutter1. Es bedeutet, sich an etwas zu laben, sich verwöhnen zu lassen und in vollen Zügen zu geniessen. Ein Kind erlebt genau das an der Brust seiner Mutter, während es gestillt wird. Es kann sich diesem Genuss so vollkommen hingeben, weil es sich auch nach der Geburt noch immer eins fühlt mit seiner Mutter. Sie ist seine Lebensquelle und ihre Brust der Ort seiner Geborgenheit. Diese Intimität, diese Fülle und Vertrautheit deutet auf unsere Beziehung zu Gott. Er tröstet und versorgt uns, wie einen seine Mutter tröstet2. Wenn wir erkennen, wie verschwenderisch gut er es mit uns meint, verändert das unser Wesen mitsamt unseren Wünschen, Plänen und Vorstellungen. Einige lösen sich in Luft auf, an anderen halten wir fest. Wir können eigene Pläne aufgeben, weil wir seinen Plänen mehr vertrauen. Und wir finden Kraft, um an anderen Plänen festzuhalten, weil sie von Gott genährt und gestärkt werden.
Wenn nun Gott andere Pläne hat, kann ich glücklich sein. Weil ich wirklich glaube und erlebe, dass er es gut meint, dass seine Gedanken und Wege esser sind als meine. Natürlich bin ich enttäuscht, und das im besten Sinne: Es schleicht ein dumpfes Gefühl in meine Magengegend, das aber voller Hoffnung aufzeigt, dass ich nicht mehr länger einer Täuschung glaube. Ich bin enttäuscht. Und statt dieser Täuschung lange hinterher zu trauern, möchte ich mich freuen über die neuen Möglichkeiten, die Gott mir dadurch verspricht.
¹Jesaia 66,11
²Jesaia 66,13