Die dritte Bitte des Vaterunsers lautet: «Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.» Vergleicht man diese Bitte mit den beiden vorherigen, sticht ein Wort ins Auge, welches in allen dreien vorkommt: «Geheiligt werde Dein Name», «Dein Reich komme» und «Dein Wille geschehe». – Es ist das «Dein», das auffällt. Damit ist der Vater im Himmel gemeint.
So wird gezeigt, dass es um die gleiche Sache geht. Ausgedrückt in drei unterschiedlichen Formen. Denn wo Gottes Wille auf Erden geschieht, wird sein Reich Wirklichkeit; wenn sein Reich Wirklichkeit wird, dann wird auf diese Weise sein Name geheiligt.
Um diese Zusammenhänge zu verstehen, werfen wir einen Blick ins Leben von Jesus, denn was er seinen Schülerkreis im Vaterunser gelehrt hat, ist eine verdichtete Darstellung seiner Lebensweise. Was im Gebet der Christen gebetet wird, lebte Jesus vor.
Bei der Bitte «Dein Wille geschehe», wird man unweigerlich an Jesu Gebet vor der Gefangennahme erinnert. Er ahnte damals, dass sein Leben in grösster Gefahr war. Er wusste, dass er in den Tod gehen würde. Todesangst überfiel ihn. In seiner Bedrängnis flehte er seinen Vater an, ihn vor dem Schlimmsten zu verschonen. Dann aber fallen jene Worte, welche an die dritte Bitte des Vaterunsers erinnern: «Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst …»
Die Spirale der Gewalt wird durchbrochen. Durch diese Lebenshingabe wird Gottes Name geheiligt und dadurch kommt das Reich Gottes in diese Welt. So seltsam und unverständlich es klingen mag: Im Weg Jesu ans Kreuz verwirklicht sich das Reich Gottes. Denn dadurch, dass Jesus auf Gewalt verzichtet, wird die Spirale der Gewalt, wird «Auge um Auge und Zahn um Zahn», aus dem Alten Testament, durchbrochen. Blutrache wird besiegt. Deshalb ist das Kreuz kein Todes-, sondern ein Friedenszeichen. Dieses Symbol widerspiegelt wie es ist, wenn auch auf Erden Gottes Wille geschieht, wie im Himmel. Insofern gibt die Lebenshaltung von Jesus einen Vorgeschmack auf den Himmel.
Nun wirft diese Lebenshaltung und die dritte Bitte des Vaterunsers viele Fragen auf. Zum Beispiel diese: Dürfen sich Christen in Konflikten nicht wehren? Oder: Was ist Gottes Wille hier und jetzt für mein Leben? Auf solche Fragen gibt es meist keine pauschalen Antworten. Sie müssen gesucht werden und sind persönlich. Manchmal empfängt man Antwort. Dies kann auf sehr vielfältige Weise geschehen. In anderen Fällen bleibt eine klare Handlungsanweisung aus. Das war auch im Leben von Jesus so. Wie oft zog er sich ins Gebet zurück, um den Willen Gottes zu suchen. Dass auch er nicht immer Antworten erhalten hat, zeigt das Geschehen am Kreuz. Da blieb Gottes Antwort aus. Dennoch geschah sein Wille.