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Lebenstraum – von der Angst zum Vertrauen

Der Traum entwickelt sich ständig weiter.
Publiziert: 21.07.2023 24.07.2023

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Von Oliver Häberlin

Das Leben schafft in uns Lebensträume – oft ohne, dass wir etwas dazu tun. Ein Lebenstraum kann verschiedene Themen betreffen, je nach Vorlieben, Interessen und Werten einer Person. Oft dreht es sich beispielsweise um Karrierepositionen, eine Familie zu gründen, ein Unternehmen aufzubauen oder einen bestimmten Erfolg in einem Bereich zu erzielen.

Die Lebensträume sind so vielfältig wie wir selbst. Der Antrieb dahinter ist eine Sehnsucht, die in allen von uns zu finden ist. Mir wurde erst im Erwachsenenalter bewusst, dass ich diese Sehnsucht nach der Erfüllung meiner Lebensträume nicht mit Dingen füllen kann, ohne wieder nach einem kleinen Aufflammen der Freude in den nächsten Wunsch und in eine latente Unzufriedenheit zu fallen – was derselbe Mechanismus wie bei einer Sucht sein kann. Dagegen können grosse Lebensträume auch langfristig für einen gehörigen Schub Motivation sorgen und einen Ansporn schaffen, der einen das ganze Leben begleitet.

Der Traum fürs Leben
Ich erinnere mich noch gut an mein Kinderzimmer – ich war etwa zehn Jahre alt. An der Wand über meinem Bett hing eine grosse und detailreiche Weltkarte. Oft konnte ich gedankenversunken für eine gute Viertelstunde die einzelnen Länder studieren. Innerlich stellte ich mir vor, wie es dort wohl aussehen könnte. Ich liebte es, in der Bibliothek Bücher über fremde Kulturen, Abenteurer und Seefahrer auszuleihen und zu lesen. Mit einer Stecknadel hatte ich eine kleine Inselgruppe inmitten des Pazifiks markiert und die Reise dorthin von nun an als meinen Lebenstraum auserkoren: die Johnston-Inseln. Doch wie war die Enttäuschung gross, als mir mein Lehrer erklärte, dass dieses Atoll durch die Tests von Kernund Chemiewaffen unbewohnbar gemacht wurde. Mein Interesse an fremden Kulturen und Abenteuer konnte mir diese Nachricht aber trotzdem nicht nehmen. Auch dass ich bereits als Kind den Winter mit seinen nasskalten und oft grauen Tagen nicht mochte, befeuerte mein Verlangen, fremde Länder zu bereisen.

Dunkle Wolken der Seele
Als ich zwölf Jahre alt wurde, begann eine Sache meine Gedanken zu beherrschen, die diametral zu meinen damaligen Lebenszielen stand. Aufgrund schwieriger familiärer Situationen entwickelte ich Angstzustände, die oft unangekündigt über mich hereinbrachen – vor allem dann, wenn ich mich an unbekannten Orten befand. In der Zeit als Jugendlicher und junger Erwachsener, in der sich meine Wünsche an mein Leben konkreter formten, schienen diese Ängste wie ein störender Kontrast. Ich wollte die Welt entdecken, neue Orte besuchen und mutig neue Herausforderungen angehen. Aber die Angst wollte mich daran hindern, meine Komfortzone zu verlassen und mich in unbekannte Situationen zu begeben. Die Diagnose lautete: posttraumatische Belastungsstörung. Trotz dieser Diagnose war meine Motivation zu reisen grösser. Und so begann ich, mit den Angstund Panikattacken zu leben – oder besser gesagt, sie zu überleben. Wie ich das geschafft habe, darüber kann ich heute nur noch staunen, denn oft hatte ich während dieser Attacken Todesängste.

Die Zwiebelschichten
Obwohl ich Europa, Afrika und Nordamerika bereiste, blieb diese innere Unsicherheit und stieg die Qual von Jahr zu Jahr. Hinzu kam, dass ich mich in eine Frau verliebte, die mir durch die Heirat eine kolumbianische Verwandtschaft bescherte. Es kam der Zeitpunkt, an dem ich Hilfe in Gesprächen mit einem Sozialdiakon suchte. Ich kannte ihn bereits aus gemeinsamen Reisen nach Holland und er war dadurch für mich zu einer Vertrauensperson geworden. In diversen Gesprächsrunden brachte er mir die Liebe Gottes als Vater und das Opfer von Jesus näher an mein Herz. Er zeigte mir auf, dass ich in meine Kindheit zurückblicken müsse und da womöglich Gründe für meine Ängste finden würde. So begab ich mich also mit ihm auf diese Reise in meine Vergangenheit und stellte fest, dass mein Gottesbild so ziemlich verschoben war. Als Säugling und Kleinkind erlebte ich zweimal beinahe einen Erstickungstod, wie ich von meiner Mutter erfuhr. Sie musste mich bis zur Ankunft ins Spital selbst beatmen und ich kam blau angelaufen in die Notaufnahme. Die Diagnose: Pseudokrupp – in beiden Fällen. Meine Eltern liessen sich nach kurzer Zeit scheiden und ich erlebte meinen leiblichen Vater eher distanziert und nicht erreichbar – auch wenn das heute nicht mehr so ist. So in etwa zeichnete sich aber auch mein Bild von Gott ab. Ein weit entfernter, oft unerreichbarer himmlischer Vater, der mir jederzeit nach Gutdünken das Leben schwer machen und sogar nehmen konnte. Ein Bild, das mir besonders half, war das einer Zwiebel. Mein Freund und Diakon malte es mir vor Augen und so schälten wir jede Schicht der Zwiebel ab. Am Ende blieb der Kern mit der zentralen Frage: «Vertraust du Gott, dass er es gut mit dir meint?» Diese Frage begleitete mich von nun an und veränderte nach und nach die Sicht auf mein Leben. Ich entdeckte, dass ich trotz vieler Herausforderungen sehr beschenkt war. So wurde ich zum Beispiel mit 25 Jahren selbständig und Inhaber einer stetig wachsenden Werbeagentur. Ich heiratete und wurde Vater von zwei wunderbaren Söhnen. Nach 20 Jahren Ehe bin ich immer noch in einer wertschätzenden und immer tiefer werdenden Liebe zu meiner Frau gefestigt. Die Fokussierung auf diesen Segen brachte mir Schritt für Schritt das Vertrauen in Gott zurück.

Von der Enge in die Weite
Ein Lebenstraum sucht das Idealbild, in dem man sich selbst gerne sehen würde. Ob es ein Traum bleibt, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Es setzt Zielsetzung, Entschlossenheit, Ressourcen, Selbstvertrauen, aber auch Flexibilität voraus. Ich schätze mein Geburtsland sehr. Als freiheitsliebende und kreative Person stiess ich aber immer wieder an Grenzen. Das durchstrukturierte Leben mit all seinen Vorzügen war mir oft zu eng. So erlebte ich bei meiner ersten Reise nach Medellin, Kolumbien, eine Weite, die ich selten zuvor gespürt hatte. Es war ein Ankommen in eine Kultur, in der ich all die neu entdeckten Essenzen wie ein nasser Schwamm in mich aufsog. Die Herausforderungen in diesem Land waren weit grösser, als man es sich als Schweizer vorstellen kann – und diese zogen mich wie ein Magnet an. So pflegten wir seit Jahren Kontakt zu diversen Hilfsprojekten in Medellin und schufen eine Brücke zwischen Menschen in der Schweiz, die helfen wollten, und jenen in Kolumbien, die Hilfe benötigten. Schliesslich war ich es, der die Idee in den Raum stellte, für zwei Jahre als Familie nach Kolumbien zu ziehen und das Engagement vor Ort zu forcieren.

Die Zeit war reif, als 2009 der technologische Fortschritt den gesamten Globus erfasste und VoIP (Internettelefonie) und schnelles Internet an beinahe jeder Ecke auf dem Erdball vorhanden waren. In einer Vorbereitungszeit von rund zwei Jahren machten wir unsere Werbeagentur fit für den Betrieb aus der Ferne und stellten den Betrieb vor Ort mit Freelancern sicher.

In der gesamten Zeit der Vorbereitung erlebten ich und meine Frau immer wieder Türen, die aufgingen, wenn wir sie anstiessen. Ebenso die Begegnung mit Jackson aus Suriname war für uns ein Zeichen der besonderen Art. Als es eines Tages an der Türe zum Büro klingelte und ich einen kleinen, dunkelhäutigen Mann mit selbstgemalten Bildern unter dem Arm sah, dachte ich an ein kurzes Gespräch, da ich nicht an einem Kauf zwischen Tür und Angel interessiert war. Doch seine ersten Worte entkräfteten meinen Plan. Er begann mit den Worten: «Guten Tag! Glaubst du, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist und dass er dir ewiges Leben schenken will?» Ich bejahte mit einem freundlichen Lachen. Er hüpfte beinahe vor Freude und begann, mir mehr von sich zu erzählen. Er war als Wanderprediger unterwegs und lebte seit vielen Jahren in Holland. Durch den Verkauf seiner Bilder finanzierte er den Lebensunterhalt für sich und seine Frau. «Weisst du», sagte er, «ich möchte gerne einmal nach Kolumbien und dort predigen.» Verblüfft teilte ich ihm mit, dass meine Frau Doppelbürgerin sei und den kolumbianischen Pass besitze – auch dass wir gerade in den Vorbereitungen für die Ausreise nach Kolumbien seien. Mit einem Satz sprang er einen Schritt zurück und brachte seine Überraschung und Freude mit dem ganzen Körper zum Ausdruck. Bei einem weiteren Treffen luden wir ihn und seine Frau zu uns nach Hause ein. Er erzählte uns, dass er in Holland einen Verlag geführt habe, diesen aber vor Jahren für die Arbeit als Wanderprediger aufgegeben habe. Nachdem er unsere Beweggründe für die Reise nach Kolumbien erfuhr, empfahl er uns, die Firma zu behalten und so ein finanzielles Standbein zu haben. Diese Begegnung war für uns ein weiteres Zeichen, dass wir auf der richtigen Fährte waren.

Konsequenzen aushalten
Trotzdem gab es auch Gegenwind, den es auszuhalten galt. So konnten nicht alle Verwandten und Bekannten unsere Pläne nachvollziehen und hatten ihre Fragezeichen betreffend Kolumbien, in dem wir mit zwei kleinen Kindern leben wollten. Ein Thema, das immer wieder angesprochen wurde, war die hohe Kriminalität. Für die sicherheitsbewussten Schweizer war es nicht immer leicht nachzuvollziehen, wie wir den sicheren Hafen und ein florierendes Geschäft in Gefahr bringen konnten. Auch einige Kunden der Werbeagentur hatten ihre Bedenken betreffend Erreichbarkeit meiner Person über den Teich und sahen eine weitere zuverlässige Zusammenarbeit in Gefahr – so sprangen wenige ab.

Bekanntes und Gewohntes loszulassen, war sicher der schwierigste Teil der Reise. Die liebgewonnene Wohnung zu räumen, das Meiste zu verkaufen und zu verschenken und die wichtigsten Habseligkeiten in sieben Kisten Luftfracht zu packen, war eine echte Herausforderung. Ich erinnere mich noch an die letzte Nacht vor der Abreise: Aus lauter Aufregung musste ich mich übergeben und fühlte mich hundeelend. Das erste Jahr in der neuen Heimat brachte viele Umstellungen mit sich. Zum einen das Einleben in einer neuen Kultur, die Wohnungssuche, die ungewohnte Bürokratie und vieles mehr. Zum Beispiel musste man für einen einfachen Besuch bei der Bank zwischen 60 bis 90 Minuten in der Schlange stehend einplanen. Vieles kostete uns Nerven. Doch das war der Preis, den wir bereit waren zu bezahlen.

Talente einsetzen
Die Motivation von mir und meiner Frau ist es, uns aktiv als Brückenbauer zwischen der Schweiz und Kolumbien einzubringen. So gründeten wir 2016 den Verein Coco mit Sitz in der Schweiz. Durch die Spenden unterstützen wir Hilfswerke und auch Einzelpersonen mit benötigtem Material und Ausbildungen. Ich bildete mich autodidaktisch in den Bereichen der Agronomie weiter und konnte so ebenfalls innovative Ideen, wie zum Beispiel die der Hydroponie (Pflanzen in Wasser), einigen Schlüsselpersonen näherbringen und in laufende Projekte einbauen. Meine Verhandlungskünste als Geschäftsführer setzte ich bei anderen Schweizer Unternehmern vor Ort ein. So zum Beispiel bei einem Pasta-Produzenten, den ich dazu bewegen konnte, seine Überproduktion und Reste regelmässig an ein Kinderheim zu spenden. Oder bei einem Hostal, das ebenfalls von Schweizern geführt wird und das nun monatlich einen Unterstützungsbeitrag an ein Hilfswerk spendet und dieses Engagement für die eigene Werbung in den sozialen Medien nutzt. Ich versuchte mich sogar als Produzenten von Kunstdrucken auf Palettenholz, die ich erfolgreich in einem der grössten Möbelhäuser in der Stadt verkaufen konnte. Meine Leidenschaft für lateinamerikanische Musik durfte ich in diversen Bands ausleben, wovon eine davon eine Auszeichnung der Stadt erhielt. Meine Frau arbeitet als Lebensberaterin und gründete zusammen mit einem Schweizer Verein eine Schule für Traumaberatung, die Seelsorger, Pastoren und Psychologen im Bereich der zeitgemässen Traumaaufarbeitung weiterbildet. Sie gibt regelmässig Kurse in Kolumbien, Kuba und Ecuador.

Der Mensch denkt – Gott lenkt
Rückblickend bin ich überzeugt, dass die Aussage «Gott ist in den Schwachen mächtig» voll und ganz auf meinen Lebensweg zutrifft. Es gibt nichts Besseres, als seinen Lebenstraum immer wieder dem Schöpfer hinzulegen. Er weiss am besten, was für jeden Menschen gut ist und was für Herausforderungen ihn ins nächste Level hieven. Ich bin dankbar für die vergangenen elf Jahre mit all ihren Hochs und Tiefs. Es hat sich gelohnt, den Lebenstraum zu verfolgen und standhaft zu bleiben. Und das Beste: Der Traum entwickelt sich ständig weiter.

 

Zur Person
Oliver Häberlin lebt mit seiner Familie seit elf Jahren in Medellin, Kolumbien. Durch seine Arbeit als Grafiker finanziert er den Lebensunterhalt seiner Familie und setzt sich in der Freizeit unentgeltlich für Non-Profit-Organisationen ein. Sein Herz schlägt für die Benachteiligten dieser Welt. Die Hoffnung des Evangeliums ist sein Antrieb.

 

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