Von Mathias Fontana
Und schon wieder habe ich den Abgabetermin für einen Text verpasst. Noch bin ich mittendrin am Schreiben – aber der Text sollte eigentlich schon korrigiert und für die Agentur zur weiteren Bearbeitung bereitstehen. Ich schaffe es einfach nicht, mich so zu organisieren, dass ich diese Termine zuverlässig einhalte. Meine chaotische Seite – die mag ich überhaupt nicht an mir – hat mal wieder Oberhand gewonnen und zu dieser Situation geführt.
Solche und ähnliche Situation erlebe ich, erleben wir wohl alle hin und wieder. Es sind die Momente, in denen wir voll mit unseren Schwächen konfrontiert werden. Bei mir sind es die Momente, in denen ich mit mir hadere und mir wünsche, anders zu sein, anders zu funktionieren – besser! Ich will nicht immer über die gleichen eigenen Unzulänglichkeiten stolpern. Am liebsten würde ich meine Schwächen loswerden wollen. Noch vor einigen Jahren stellte ich mich regelmässig wegen meiner Schwächen «ins Abseits». Ich verurteilte mich für diese Fehler und Schwächen oder verglich mich mit anderen: Die schaffen das oder jenes doch auch, dann sollte ich es auch können! Scheitern, Schuldgefühle, sich aufraffen und Mühe geben, erneut scheitern, schon wieder Schuldgefühle. Ein negativer Kreislauf, der mich nicht zum «besseren» Menschen machen kann.
Kein glatter, rechteckiger Stein
Heute sind diese Momente des Haderns manchmal immer noch da, jedoch deutlich weniger häufig. Ich kann mich – inklusiver meiner Schwächen und Stärken – mittlerweile besser annehmen, wie ich bin. Dazu geführt hat mich unter anderem eine Aussage, die vor Jahren jemand zu mir gesagt hat: «Mathias, die Leute um dich herum lieben dich doch wegen deiner Ecken und Kanten!» So hatte ich das noch gar nie überlegt. Meine Ecken und Kanten – das sind meine ganz besonderen Eigenschaften: meine Stärken und Schwächen. Diese muss ich gar nicht alle loswerden und «abschleifen». Denn beim zu starken Schleifen würden so ja auch meine guten Seiten, meine Stärken, weggeschliffen werden. Ich würde zwar vielleicht zum glatten, genormten Stein. Aber jegliche Originalität und Individualität wäre ja dann verschwunden. Vielleicht geht es einfach darum, die ärgsten Spitzen und gefährlichen Kanten etwas abzuschwächen. Diese Sicht auf meine Stärken und Schwächen hat mich deutlich gelassener werden lassen. Ich konnte meine positiven und negativen Eigenschaften dadurch besser akzeptieren. Aus dieser Gelassenheit und Selbstannahme heraus entstand aber durchaus auch Veränderung: Viele meiner «gefährlichen» Ecken und Kanten sind heute deutlich weniger scharf und können meine Mitmenschen und mich selbst nicht mehr so verletzen, wie es früher manchmal der Fall war.
Ecken und Kanten stabilisieren
Das Bild der Steine mit Ecken und Kanten lässt sich auch noch um eine Dimension erweitern: Es ist wie bei diesen uralten, erdbebensicheren Tempel- oder Festungsanlagen, die es an verschiedenen Orten auf der Welt gibt. Sie sind aus kleinen, grossen und riesigen, kaum behauenen Steinen gebaut. Diese sind nicht glatt und rechteckig, sondern haben zig Ecken, Dellen und Kanten. Die Menschen damals haben diese genau aufeinander abgestimmt zusammengefügt, so dass sie ein stabiles Bauwerk bilden. Dieses Bild wird auch in der Bibel benutzt für uns Menschen, für die Kirche: In einem seiner Briefe schreibt Paulus, dass wir «ineinandergefügt», auf dem «Fundament der Apostel und Propheten» und mit Jesus Christus als Eckstein, zusammen den Heiligen Tempel Gottes bilden (Epheser 2, 19-21; nach Luther). Ich bin überzeugt, dass es für dieses «Ineinanderfügen» Steine mit Ecken und Kanten braucht, sonst würde dieser Bau nicht halten. Natürlich ist es hie und da notwendig, etwas Dreck und Verkrustung wegzuschaben, damit die Kanten auch wirklich zum Vorschein kommen oder um eine gefährliche Stelle zu entschärfen. Aber dieser Tempel Gottes besteht sicher nicht aus lauter genau gleichen, quaderförmigen und glatten Steinen.
Mein Fazit daraus: Wir Menschen haben Ecken und Kanten respektive Stärken und Schwächen. Beides gehört zu uns, wir können uns nicht einfach von all unseren Schwächen lösen. Wir können nur immer wieder mit dem bekannten Gebet von Reinhold Niebuhr Gott um Hilfe bitten:
Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen,
die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.