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Mut machen

Über Angst und Hoffnung in Netflix-Serien
Publiziert: 19.01.2023 20.01.2023

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Von Manuel Schmid

Hallo, mein Name ist Manuel und ich bin ein Netflix-Süchtiger. Als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal ein Streaming-Abo gelöst hatte, war es schnell um mich geschehen. Seither ziehe ich mir so ziemlich alles rein, was mir vor den Bildschirm kommt. Und weil ich Theologe bin, denke ich auch darüber nach.

Meine Arbeitsstelle im «RefLab», einem von der Reformierten Kirche getragenen Pionierprojekt für digitale Kommunikation, gibt mir sogar die Gelegenheit, das professionell zu tun: Ich betreibe dort nämlich (u.a.) einen Podcast, in dem ich mit Philosophinnen, Theologen und Künstlerinnen über ihre Lieblingsserie auf Netflix rede – und darüber, was sich über unser Leben und unsere Gesellschaft davon lernen lässt.

Denn ich bin überzeugt, dass sich das, was Menschen in unserer Zeit bewegt und umtreibt, was ihnen Angst macht und was ihnen Hoffnung schenkt, nirgends so unmittelbar ablesen lässt wie in den aktuellen Serien-Trends.

Netflix, Disney+, Amazon Prime Video und Co. spiegeln die Ängste und Sehnsüchte, den Glauben und die Hoffnungen unserer Zeit. Sie kratzen mit anderen Worten dort, wo es die Gesellschaft juckt.

In einem Jahrzehnt, in dem eine Pandemie von einem schrecklichen Krieg in der Ukraine abgelöst wurde und in dem der Klimawandel zu einer sehr konkreten Bedrohung für die Menschheit wird, droht vielen, die Hoffnung auszugehen. Wie verzweifelt nötig hat unsere Welt Menschen, die für andere zu Hoffnungsträgern werden!

Hoffnung ist eine ganz eigenartige Kraft, die in die DNA des Christentums eingebaut ist und die Nachfolgerinnen und Nachfolger von Jesus seit zwei Jahrtausenden bewegt. Denn Hoffnung motiviert zum Handeln: Sie ist nicht nur etwas Cerebrales, Intellektuelles und auch nicht nur etwas Emotionales – Hoffnung ist der Stoff, aus dem die Zukunft gebaut wird, der Treibstoff für Veränderung.

Auf dem Hintergrund meiner Beobachtungen zu TV-Serien möchte ich darum über drei gegenwärtige Krisen, über zwei Motive und über eine Vision nachdenken – und dabei entdecken, was Hoffnungsträger auszeichnen.

Drei Krisen
Als unsere beiden Kinder vor 10 und 12 Jahren zur Welt kamen, hätte ich ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, mit ihnen einmal den Ausnahmezustand während einer Pandemie erleben oder ihnen von der Invasion Russlands in einen demokratischen Staat erzählen zu müssen. Auch die Erwärmung der Atmosphäre und die damit verbundenen Gefahren waren zumindest für mich noch eher abstrakte Bedrohungsszenarien.

Inzwischen halten diese drei Krisen unsere Welt aber fest im Griff: Pandemie (und ihre wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen), Krieg und Klimawandel.

Auf Netflix werden diese drei Krisen im Genre der postapokalyptischen Serien verarbeitet. Es ist auffallend, dass sich in den vergangenen zehn Jahren ein regelrechtes Revival von Serien beobachten lässt, die sich mit dem Ende der Welt und der (beinahen) Ausrottung der Menschheit befassen. Das Angebot ist unüberschaubar geworden, der Markt dafür ist offensichtlich riesig.

Die «grossen Drei» – Seuchen (wozu natürlich auch die Zombie-Filme gehören, welche immer auch Pandemiegeschichten sind), Krieg und Klimakollaps – haben auch die^Serienwelt in ihren Bann gezogen.Die erschütterten Sicherheiten in unserer Zeit spiegeln sich also auch auf Netflix und Co.

Es gibt offenbar ein eigenartiges Bedürfnis, sich in die Lage einer Katastrophe zu versetzen und Menschen dabei zuzusehen, wie sie auf existenzielle Krisen reagieren. Was tun Menschen, wenn es ums nackte Überleben geht? Wenn keine Gesetze mehr in Kraft sind, keine Polizei mehr für Ordnung sorgt und die pure Macht des Stärkeren regiert? Wie reagieren Menschen auf existenzielle Bedrohungen, wenn sie nicht mehr durch einen funktionierenden Rechtsstaat und soziale Gepflogenheiten im Zaum gehalten werden?

Ich glaube, man kann die ganze Palette an Reaktionen auf zwei fundamentale Motive herunterkochen, die tief in uns angelegt sind und die unser Handeln in Krisensituationen, aber auch im ganz normalen Leben wesentlich bestimmen:

Das erste Motiv ist die Angst
Man kann Angst definieren als das Ergriffensein von einem negativen Zukunftsszenario. Dieses nimmt unser Denken, Fühlen und Handeln in Beschlag und setzt einen Teufelskreis in Gang, der uns immer mehr in die Enge und Einsamkeit treibt.

Natürlich gibt es auch irrationale Ängste, die kaum gerechtfertigt erscheinen. Die Liste an psychologisch diagnostizierbaren Phobien wächst stetig an. Die durch die drei grossen Krisen ausgelösten Ängste sind allerdings durchaus berechtigt. Die damit verbundenen apokalyptischen Szenarien werden von internationalen Krisenstäben und von renommierten Wissenschaftlern als ernsthafte ^ Möglichkeiten durchgespielt. Sie setzen eine kognitive, emotionale und dann auch wortwörtliche Bewegung in Gang:

  • Kämpfen gegen das drohende Unheil
    Negative Zukunftsszenarien wecken in uns einen Instinkt, gegen das Unheil zu kämpfen, das uns droht. Es ist ein Kampf dagegen, leer auszugehen, Mangel zu erleiden, zu kurz zu kommen. Zahlreiche, die Krisen unserer Zeit verarbeitende Netflix-Formate führen uns die enorme mobilisierende Kraft wie auch das destruktive Potenzial solch bedrohlicher Aussichten vor Augen – die Realität steht dem aber in nichts nach: Aus der ersten Corona-Welle sind uns die Berichte von Menschen in Erinnerung, die in Spitälern Seife und Desinfektionsmittel stehlen, von Müttern, die sich in Supermärkten um das letzte Toilettenpapier streiten, in den USA auch von Bürgern, die sich mit Waffen eindecken, um sich im erwarteten Chaos durchsetzen zu können. Das sind erschreckend konkrete Veranschaulichungen des Mobilisierungspotenzials, das in der aufkeimenden Angst steckt.
  • Rückzug, Isolation, Einsamkeit
    Dieser Kampf gegen das, was die eigene Zukunft bedroht, ist ein einsamer Kampf. Er führt zum Rückzug in die eigene kleine Welt. Auch das lässt sich in vielen apokalyptischen TV-Serien hervorragend beobachten: Die meisten von ihnen gehen von einer Gruppe von Menschen aus («The 100»; «The Walking Dead» …), die nicht allein durch die Bedrohungen von aussen, sondern auch und gerade durch interne Überlebenskämpfe, Misstrauen und Intrigen immer weiter dezimiert wird: Angst macht unsere Welt kleiner und kleiner, sie führt uns in die Abgrenzung – eine Einsicht, die übrigens auch von der Wortherkunft gedeckt wird: «Angst» kommt etymologisch von «Enge», «Engsein», sogar von einem Ausdruck, den man mit «die Kehle zuschnüren» wiedergeben könnte.
  • Erschöpfung, Resignation, Zynismus
    In dieser Abgrenzung, in dieser immer kleiner werdenden Welt, wird man trotz allen Aufbäumens irgendwann überwältigt von dem, was man befürchtet. Es kommt der Moment, an dem die Kräfte zum Kampf sich erschöpfen und die Resignation siegt. Man kann nicht mehr, ist blockiert. Was noch bleibt, ist allenfalls ein beissender Zynismus, der den eigenen Blick auf die Welt vollends vergiftet und sich auch toxisch auf die eigene Umgebung auswirkt. Wir sollten nicht unterschätzen, wie tief diese Mechanismen der Angst in uns verwurzelt sind und wie unerbittlich sie von uns Besitz ergreifen, wenn die negativ

Das zweite Motiv ist die Hoffnung
Es gibt wohl nur ein Motiv, das uns noch fundamentaler ergreifen und aus der Reserve locken kann als die Angst – und das ist die Hoffnung. Wenn Angst das Ergriffensein von einem negativen Zukunftsszenario ist, dann ist Hoffnung das Ergriffensein von einem positiven Zukunftsszenario. Und auch diese Ergriffenheit setzt einen Kreislauf in Gang, der uns kognitiv, emotional und körperlich bewegt. Es ist dieser Traum einer besseren Welt, der die Rede von Martin Luther King so berühmt gemacht hat und noch heute Hörerinnen und Hörer dazu bringt, innerlich «Ja!» zu rufen. Es ist dieser Glaube, dass noch nicht alles verloren ist, dass die Kräfte des Guten doch noch siegen könnten, dass Gottes Liebe und nicht die Leiden dieser Welt das letzte Wort haben werden. Es ist diese Zuversicht, dass Menschen sich bewegen lassen und für eine bessere Zukunft auch einen Preis zu zahlen bereit sind. Solche positiven Zukunftsszenarien ergreifen uns und führen uns ebenfalls entlang dreier sich verstärkenden Phasen:

  • Kämpfen für die erhoffte Zukunft
    Nicht nur die Angst, sondern auch die Hoffnung weckt unseren Kampfeswillen. Es ist aber nicht ein Kampf gegen das, was man befürchtet und was auf keinen Fall eintreten soll – es ist vielmehr ein Kampf für das, was man erhofft, für das, was man, wenn irgend möglich, noch mit eigenen Augen sehen oder wenigstens seinen Kindern als Vermächtnis mitgeben will. Die Spannung vieler TV-Serien verdankt sich der Tatsache, dass eben nicht alles in Zynismus und Resignation versinkt, sondern dass immer wieder Protagonisten die Fackel der Hoffnung auf eine bessere Welt hochhalten und sich inmitten widriger Umstände zusammenraufen. Mit ihnen solidarisieren und identifizieren sich die Zuschauer unweigerlich, denn auch wir sind dazu verkabelt, auf positive Zukunftsszenarien anzusprechen und selbst einen Beitrag zu deren Verwirklichung zu leisten.
  • Beteiligung, Inklusion, Gemeinschaft
    Darum wird unsere Welt in diesem Kampf auch nicht immer kleiner, sondern immer grösser. Sicher, er beginnt vielleicht klein, sogar einsam – aber er lebt davon, andere zu gewinnen und zu beteiligen. Angst ist exklusiv, vereinsamend (selbst wenn sie andere ansteckt, bleiben die Geängstigten letztlich mit sich allein). Hoffnung dagegen ist inklusiv, vergemeinschaftend: Auch sie steckt an – aber sie führt Menschen nachhaltig zusammen, sie erzählt eine Geschichte, in der sich viele wiederfinden und an der viele mitschreiben möchten. Die meisten apokalyptischen Serien lassen sich mit dieser Brille sehr stimmig aufschliessen: Die Hauptfiguren werden hin- und hergerissen zwischen der vereinnahmenden Macht der Angst, die Misstrauen sät und die eigene Perspektive verengt – und der fesselnden Hoffnung, die dazu inspiriert, anderen zu vertrauen und gemeinsam etwas Neues zu schaffen.
  • Befähigung, Ermutigung, Ermächtigung
    Denn das ist eine nächste «Phase» dieses Kreislaufes: Hoffnung ermächtigt Menschen. Während Angst unsere Handlungsmöglichkeiten immer mehr aussaugt, uns in die Resignation drängt, weckt die Hoffnung unseren Mut, tätig zu werden. Sicher kann auch die Angst Menschen antreiben. Sie bewegt uns aber letztlich nicht nach vorne, sondern lässt uns die Flucht antreten. Spätestens wenn der Geängstigte mit dem Rücken zur metaphorischen Wand steht, versiegt auch die Tatkraft. Das ist sogar physiologisch nachweisbar: Im sogenannten «Kampf-oder-Flucht»-Modus, mit dem unser Körper auf Stress reagiert, wird zwar Adrenalin ausgeschüttet und der Bedrohte auf schnelle Reaktionen und Affekthandlungen vorbereitet – aber das kreative, vernetzte Denken, das für die Hoffnung entscheidend ist, wird dadurch gerade verunmöglicht. Es ist wohl höchstens eine rhetorische Frage wert, in welchem Kreislauf wir uns selbst wiederfinden möchten – und in welchen Kreislauf wir andere Menschen hineinnehmen möchten. Aber woher kommt die Hoffnung, die Menschen ergreift und aus der Angstspirale herausreisst?

Die Vision
Ich möchte zum Schluss die steile These aufstellen: Der christliche Glaube weckt eine Hoffnung, die nicht von dieser Welt ist, aber die diese Welt transformiert. «Das Reich Gottes ist angebrochen» – das ist die Vision, die vor über 2000 Jahren aus einer obskuren jüdischen Sekte am vergessenen Rande des römischen Imperiums eine revolutionäre Bewegung gemacht hat, die bald auch in die hintersten Winkel des Römischen Reiches vordrang. Sie wurde bekannt für eine Hoffnung, die in die Welt hinausdrängt. Christen der ersten Generationen haben ihre Städte Strasse für Strasse abgelaufen, um die Zerbrochenen, Ausgestossenen, Verachteten zu versorgen. Sie haben Zwangsarbeiter in den römischen Bergwerken besucht, alles Geld zusammengelegt, um Sklaven freizukaufen. Warum taten sie das? Sie waren überzeugt, dass eine neue Wirklichkeit in diese alte, kaputte Welt hineingebrochen ist. Die Hoffnung des christlichen Glaubens beruht auf der Überzeugung, dass in der Person von Jesus Christus die Zukunft bereits in die Gegenwart unserer Welt hineinstrahlt: In ihm kommt uns Gott gewissermassen aus der Zukunft entgegen. Darum können Christen mit der Vision einer neuen Realität leben, in welcher der Tod nicht das letzte Wort hat, in der Verzweiflung und Zerstörung nicht siegen werden. Sie handeln in dieser Welt nicht aus Verzweiflung und Angst, sondern im Geist einer neuen Zeit. Das ist eine Vision, die uns in Beschlag nimmt, die uns bewegt und selbst ins Handeln führt. Sie lässt uns nicht einfach warten auf etwas, was Gott einseitig von oben herab tun wird – sie macht uns vielmehr selbst zu Hoffnungsträgern!

 

Zur Person
Manuel Schmid, Familienmann und promovierter Theologe, arbeitet seit drei Jahren im «RefLab», in einem digitalen Pionierprojekt der Reformierten Kirche des Kantons Zürich.^Sein Herz schlägt dafür, das Evangelium neu zu entdecken und eine neue Sprache für den Glauben zu finden.
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