Von Matt Studer
Jesus berührte oft die Menschen am Rande der Gesellschaft. Sei es die Ehebrecherin, der Zöllner oder der Aussätzige – eine Begegnung mit Jesus rehabilitierte sie, veränderte sie, katapultierte sie in eine neue Richtung. Die gesellschaftlich Etablierten hatten es da manchmal nicht so leicht. Für den reichen Jüngling führte die Begegnung mit Jesus nicht zu einem Turn-Around, sondern zu einem Turn-Away.
Doch gab es wohl Ausnahmen. Nikodemus war ein bekannter jüdischer Gelehrter der Tora. Als Mitglied des obersten jüdischen Rates war er ein einflussreicher Mann und gehörte zur Topliga der religiösen Prominenz. Nun waren die Pharisäer Jesus gegenüber ja meist kritisch eingestellt. Zu kontrovers, keinen Sinn für politisch Korrektes und gleichzeitig beim Volk populär war er ihnen ein Dorn im Auge. Da überrascht es schon, dass Nikodemus sich für Jesus interessierte und ihn eines Nachts im Stillen aufsuchte (siehe Johannes 3,2).
Ich würde Nikodemus zu diesem Zeitpunkt als skeptisch Suchenden bezeichnen. Er kam bei Nacht, sicher auch damit sein Besuch kein öffentliches Aufsehen erregen würde. Er verhielt sich respektvoll, nannte Jesus «Rabbi». Er war bereit zu hören und vielleicht zu lernen. Als Gelehrter der Schriften konnte er das «Phänomen Jesus» nicht einfach so stehen lassen. Entweder war Jesus von Gott gesandt – «denn niemand kann solche Wunder tun, wenn Gott nicht mit ihm ist». Oder aber er ist ein Scharlatan und vom Teufel besessen (siehe Joh. 8,48).
Es braucht ein Eingreifen von oben
Ob Nikodemus insgeheim in Betracht zog, dass Jesus mehr war als ein von Gott gesandter und gesalbter Lehrer, vielleicht sogar Gottes Sohn, können wir nicht wissen. Die Antwort Jesu ist kryptisch und herausfordernd: Du, Nikodemus, kannst eigentlich nicht verstehen, wer ich bin und was ich dir erzähle, es sei denn, du wirst von Neuem geboren. «Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht ins Reich Gottes hineinkommen.» (Joh. 3,5) Es braucht ein Eingreifen von oben, keinen Doktortitel der Theologie. Und so begibt sich Nikodemus wieder ins Dunkel der Nacht und es bleibt zweifelhaft, ob es in seinem Herzen hell geworden ist.
Nach dieser Begegnung mit Jesus blieb Nikodemus ein Jünger aus Distanz. Wir können nur spekulieren, was die Worte Jesu in ihm auslösten. Auf jeden Fall will uns der Evangelist Johannes wissen lassen, dass eben dieser Nikodemus sich nach der Verhaftung Jesu für einen fairen Gerichtsprozess einsetzte: «Seit wann verurteilt unser Gesetz einen Menschen, ohne dass man ihn vorher anhört und feststellt, ob er schuldig ist?» (Joh. 7,51) Kein Bekenntnis zwar, so doch eine Art Stellungnahme. Vielleicht gehörte Nikodemus auch zu der Gruppe von Pharisäern, die an Jesus glaubten, sich aber scheuten, dies öffentlich zuzugeben (siehe Joh. 12,42).
Und dann begegnet Nikodemus uns noch ein drittes Mal – nach der Kreuzigung Jesu. Wieder erinnert uns der Evangelist Johannes daran, dass es sich um diesen Nikodemus handelt, «der Jesus am Anfang einmal bei Nacht aufgesucht hatte.» (Joh. 19,39) Er und Josef von Arimathäa nahmen den Leichnam Jesu vom Kreuz und sorgten für ein würdevolles, den jüdischen Sitten entsprechendes Begräbnis (siehe Vers 40). Die Gewürzmischung aus Myrrhe und Aloe, von Nikodemus bereitgestellt, muss sehr teuer gewesen sein. Sagt dies und die Sorgfalt, mit der er sich dem Leichnam Jesu widmete, nicht etwas über seine Hingabe und Liebe zu Jesus aus? Was ganz nebenbei auffällt: Nikodemus verrichtet seinen «Jesus-Dienst» am helllichten Tag. Er wagt den Schritt an die Öffentlichkeit. Es geht ihm um Jesus und er scheut dafür weder den finanziellen Aufwand noch den Spott der anderen.
Nicht immer geht’s so rasend schnell
Können wir im Fall Nikodemus wirklich von einem Turnaround reden? Nikodemus erlebte keine 180-Grad- Umkehr, kein spektakuläres Heilungswunder, kein plötzliches «Lass deine Netze liegen und folge mir nach». Ja, er war von Jesus angezogen, fasziniert, vielleicht auch kritisch und zweifelnd. Anfangs abtastend brauchte er Zeit, um für sich zu ordnen, wer dieser Jesus ist und wie seine Beziehung zu ihm aussehen könnte. Aber am Ende war er zur Stelle, bereit Jesus zu dienen. Bei von Jesus angestossenen Turnarounds gibt es kein vorgedrucktes Exemplar. Und das ist auch gut so. Denn sonst müsste mein Glaubensweg ja genau gleich aussehen wie deiner.
Bei der ersten Begegnung damals in der Nacht war sich Jesus bewusst, dass es mehr braucht als eine flüchtige Begegnung – für Nikodemus und für uns. Es brauchte den grössten Turnaround aller Zeiten, dass der Menschensohn erhöht werde, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben (siehe Joh. 3,14–15). Jesus sprach hier vom Kreuz. Indem der ewige Gott Mensch wurde und für uns bis ans Kreuz ging und starb, öffnete er Nikodemus und uns die Tür zum Vater. Und wenn wir durch diese Tür hindurchgehen, wird sich unser Leben himmelwärts drehen. Vielleicht schockierend schnell, vielleicht gefühlt schneckentempo-langsam. Doch drehen wird es. Und einmal gedreht, wird es sich an Jesus ausrichten und ihm nachfolgen – ein Leben lang.