Von Markus Giger
Christenmenschen engagieren sich für diese Welt. Das gehört sich so, schliesslich stolpern sie ihrem Meister nach. So engagiert wie er wollen sie auch sein. Meistens. Doch ab und zu und bei vielen mit zunehmendem Alter immer heftiger machen sich Lustlosigkeit und Erschöpfung breit. Ein persönlicher, schonungslos kritischer, aber nicht perspektivenloser Blick auf das christliche Engagement.
35 Jahre Engagement – abgebrannt wie eine Kerze
Zugegeben, im Rückblick erscheint mir jene Gebetsgemeinschaft von uns Gymnasiasten ziemlich überhitzt: Wir waren ein wild zusammengewürfelter Haufen junger Leute, die sich in jener Ferienwoche das erste Mal trafen. Es wurde debattiert und gebetet; leidenschaftlich, eifrig, engagiert. Nach einer solchen Gebetssession kam eine Teilnehmerin auf mich zu und sprach mich an. Ich erinnere mich weder an ihren Namen noch an ihr Aussehen, aber ihre Worte begleiten mich nun schon bald vierzig Jahre. Dabei waren mir ihre Aussagen damals unangenehm; zu direkt, vielleicht auch zu persönlich: «Du bist wie eine Kerze, durch dich werden viele Menschen Licht erfahren, aber der Preis dafür, dass Kerzen Licht spenden, ist, dass sie dabei abbrennen. Du wirst bei dem, was du tun wirst, verbraucht werden.» Das war’s. Mehr hat sie nicht gesagt und soweit ich mich erinnere, war ich schlicht zu baff, als dass ich nachgefragt hätte. In den letzten Monaten denke ich oft an diese Begegnung. Ich stehe unmittelbar vor einem dreimonatigen Sabbatical, das ich notabene fünf Mal verschoben habe. Es war immer der falsche Moment, mein vielfältiges Engagement in der streetchurch und der Gefängnisseelsorge liessen es nicht zu. Zumindest war dies meine tiefe Überzeugung und so argumentierte ich alle gutgemeinten Ratschläge jahrelang eloquent aus dem Weg.
Doch meine Wahrnehmung hat sich verändert. Dramatisch. Ich kann es kaum erwarten, diese dreimonatige Auszeit. Aus und vorbei – zumindest für einige Wochen – einfach frei und ledig ohne die Verantwortung für all die anvertrauten Menschen. Seit einiger Zeit fühle ich die Worte jener jungen Frau, sehe das Bild der beinahe abgebrannten Kerze, die seit mehr als 35 Jahren brennt. Ja, ich fühle mich ausgebrannt, verbraucht und müde. Als ich für diesen Artikel angefragt wurde, hatte ich gute Gründe, eine wohlformulierte Absage zu schreiben. Natürlich ist die Agenda vor einer Auszeit voll, aber der eigentliche Grund für meinen Widerwillen war und ist meine Befindlichkeit: Ich kann kein flammendes Plädoyer für das christliche Engagement verfassen und fühle mich unfähig, eine differenzierte Sicht zu entwerfen, zu sehr hinterfrage ich momentan meine diesbezügliche Haltung der vergangenen Jahrzehnte: «Immer an der Arbeit, alle an der Arbeit!» Wie oft habe ich diesen methodistischen Schlachtruf aus dem Munde meiner Mutter gehört – und sie selbst hat ihm bis weit über die Grenzen des Gesunden für andere nachgelebt. Erst in den letzten Jahren, in denen die Phasen der Erschöpfung häufiger werden und die Regenerationszeiten immer mehr Zeit beanspruchen, wird mir bewusst, wie stark ich von Glaubenssätzen geprägt bin, die ich bereits als Kind verinnerlicht habe.
Von der Notwendigkeit und der Hinfälligkeit eines die Grenzen respektierenden Engagements
Ich habe trotzdem zugesagt, diesen Artikel zu schreiben. Weil ich glaubte, doch ein feuriges Plädoyer halten zu müssen: für ein wohldossiertes, reflektiertes, die eigenen Grenzen und Bedürfnisse respektierendes christliches Engagement und die Notwendigkeit, eine Reflexionskultur bezüglich des Engagements von Mitarbeitenden und Freiwilligen in allen möglichen Institutionen und Gemeinden zu etablieren. Dass ich dies wichtig und richtig finde, dazu stehe ich. Und damit ist das Anliegen auch schon platziert. In meiner alles anderen als mühelosen Auseinandersetzung mit dem Thema fand ich allerdings an diesem Punkt keinen Frieden. Denn ein wohldossiertes Engagement mag vernünftig sein, aber es steht in einer eklatanten Spannung zu meinem Nachfolgeverständnis. Ich verstehe mein Leben als ein Nachstolpern hinter Jesus her. Was er tat, versuche ich auch zu tun, zwar oft anfängerhaft und ziemlich dilettantisch. Wie Jesus mit den Menschen umging, war und ist für mich eine, wenn auch steile, so doch unaufgebbare Vorgabe für mein eigenes Verhalten. Und ja: So wie Jesus sich ganz und gar, schonungslos Menschen verschenkt hat, so will ich mich auch verschenken. Die Konsequenz einer dermassen auf Identitätsangleichung zwischen Jesus und mir bedachten Nachfolge ist jedoch ein Engagement, das das eigene Leben wenig schont, beziehungsweise aus dem zwingend eine energetische Negativbilanz resultiert. Und nein, der Herr hat mein Engagement, das in den letzten Jahrzehnten oft an die Grenzen der Belastbarkeit und darüber hinaus ging, nicht mit Extraportionen Superpower zurückerstattet, die verbrauchte Energie blieb allzu oft unersetzt und selbst die Trauer über den Verlust viel zu vieler junger Menschen ohne Trost. Es ist mir bewusst, dass an dieser Stelle leer geschluckt wird. Dieses Statement entspricht so ganz und gar nicht dem üblichen christlichen Narrativ, wenn es um die Nachfolge geht, und das sich mit einem wohlbekannten Spruch gut zusammenfassen lässt: «Der Herr wird’s vergelten!» Das mag zwar durchaus zutreffen und Jesus scheint ein solches positives Vergeltungsprinzip auch zu verheissen, allerdings in einer wenig beruhigenden Ambivalenz einer akuten Bedrohung durch Verfolgung und mit einem deutlichen Drall Richtung Ewigkeit (vgl. Markus 10,30). Für mich ist es befreiend festhalten zu dürfen: Der Herr hat mein Engagement – zumindest in meiner Wahrnehmung – oft nicht vergolten. Und damit befinde ich mich – so sehe ich es zumindest – in durchaus prominenter Begleitung, auch wenn es hochgradig unangemessen ist, mich in einem Atemzug mit diesen Zeugen des Glaubens zu nennen: Für elf der zwölf Apostel war für ihr Engagement Verzicht, Leiden und am Ende das Martyrium beschieden und die Reihe der Menschen, die für ihren uneingeschränkten Einsatz für das Reich Gottes einen hohen Preis, unter Umständen gar mit ihrem Leben bezahlten, liesse sich endlos fortsetzen; von Paulus bis zu Bonhoeffer, der übrigens den Sinn christlicher Existenz mit folgenden, doch eher ernüchternden Worten auf den Punkt bringt: «Wahres Christentum bedeutet: Teile des anderen Schmerz.» So sehr es richtig ist, die eigenen Grenzen zu kennen und zu respektieren und sich entsprechend im eigenen Engagement zu begrenzen, so sehr bin ich der Überzeugung, dass wir in der Nachfolge Jesu immer wieder diese eigenen Grenzen – auf sein Wort hin – überschreiten werden. Jesus ruft uns in seine Nachfolge, sein Weg ist unser Weg und sein Weg war der Weg ins Leiden der Menschen und ins Leiden an dieser Welt, in letzter Konsequenz der Weg ans Kreuz.
Nachfolge Jesu ist schonungslos – eine lebenslange Herausforderung
Der Weg an der Seite Jesu, mitten im Leiden an dieser Welt, kann per se keiner sein, der im Schongang verläuft. Nicht anders als der Sohn Gottes auf diesem Weg an seine Grenzen stiess und weit über das «Vernünftige» hinaus ging, werden wir auf diesem Weg an seiner Seite immer wieder neu an unsere Grenzen geführt und wohl auch darüber hinaus. So sehr ich mir meine Müdigkeit eingestehe und froh um die bevorstehende Pause bin, und so sehr ich mir in dieser Zeit auch Gedanken über meinen Kräftehaushalt machen und Feinjustierungen bezüglich meines künftigen Engagements vornehmen werde, so sehr ist mir beim Rückblick auf die vergangenen 35 Jahre bewusst: Ohne diese «all-in»-Mentalität, ohne dieses Strapazieren von allen möglichen Grenzen, seien diese institutioneller Natur oder eben der eigenen Kräfte, wäre das, was geworden ist, so wohl nicht geworden. Ja, es war nötig und wird nötig bleiben, dass ich auch künftig für die mir anvertrauten Menschen verfügbar bin und dies auch ausserhalb der Öffnungszeiten des streetchurch-Zentrums. Ja, es war richtig und wird auch in Zukunft notwendig sein, dass ich mehr als eine Extrameile mit Menschen gehe, die mich bitten, in beschwerten Lebenssituationen an ihrer Seite zu bleiben. Ja, ich und mit mir viele Mitarbeitende in der streetchurch werden auch künftig mehr als das «Menschenmögliche » oder Vernünftige tun, endlos neu anfangen und wenn es muss sieben Mal siebzig Mal.
Es ist meine tiefe Überzeugung, dass das Adaptieren der neuen Welt Gottes in dieser Welt uns auf allen Ebenen bis aufs Äusserste herausfordert. Wäre dies alles so selbstverständlich und souverän, im Rahmen des Gewohnten realisierbar, wäre es nicht das anbrechende Reich Gottes, das in unserem Wirken und unserer Hingabe an die Menschen bereits sichtbar und wahrnehmbar wird. Die grosse Kunst und Herausforderung ist und bleibt es, die eigenen Kräfte möglichst schonend schonungslos einzusetzen. Dieses paradoxe Prinzip christlicher Existenz entdecke ich in den Worten Jesu: «Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren, und wer es verliert, wird es neu erhalten. » (Lukas 17,33) Wie diese Selbstaufgabe in der Nachfolge konkret in der je eignen Lebenssituation umgesetzt werden kann, um das muss wohl immer wieder neu auf dem Weg mit Jesus und im Gespräch mit nahestehenden Menschen gerungen werden.
«Der Preis dafür, dass Kerzen Licht spenden, ist, dass sie dabei abbrennen.»
Es ist so.
Ich bin einverstanden damit.
Zur Person
Markus Giger, 55, ist Pfarrer, theologischer Leiter der reformierten streetchurch und Gefängnisseelsorger. Er ist verheiratet mit Sibylle, die dafür sorgt, dass sein Engagement nicht gänzlich aus dem Ruder läuft, Vater zweier erwachsener Kinder, die das dosierte Engagement wesentlich besser im Griff haben als ihr Vater. Den Beruf als Berufung leben zu dürfen, empfindet er zugleich als Privileg und Herausforderung.