Sie spürt ihr Herz in ihrem Hals und wischt die nassen Hände an ihrer Jeans ab. Er zeigt auf die Krippe, dann auf das Kreuz. «Der Mann, der in einer Krippe zur Welt kam, um am Kreuz zu sterben, hat die Welt verändert. Er kennt eure tiefsten Wünsche und hat die Macht, euch zu verändern.» Leon neben ihr atmet hörbar aus. «Sie wollen uns im Ernst sagen, dass die Belohnung für all unsere Mühen nur ein «unsichtbarer Gott», ein religiöses Märchen ist?» Seine Stimme klingt aufgebracht. Der Mann – ist es ein Priester? – tritt zu ihm hin und legt eine Hand auf seine Schulter. Alle Farbe weicht aus Leons Gesicht.
«Ich verstehe dich. Auch die Weisen haben sich gefragt, ob sich der weite Weg wirklich gelohnt hat, als sie vor der Krippe standen. In einem stinkenden Stall. Ein gewöhnliches Baby unbekannter Eltern gesehen haben.» Leon öffnet den Mund und schliesst ihn wieder, ohne dass er ein Wort herausgebracht hat. Seine Augen starren unverwandt auf den Priester, der ihm nun seine Hand auf die linke Brustseite legt. «Aber dann haben die drei Weisen etwas in ihren Herzen gespürt.» Warum zittert Leon plötzlich unkontrolliert? Er, der je kaum Gefühlsregungen zeigt? «Sie wussten, dass sie wussten, dass sie wussten, dass sie dem grössten König gegenüberstanden, den es je gegeben hat und geben wird», fährt der Mann fort. Er macht vor Leons Gesicht eine Handbewegung, als ziehe er einen Vorhang zur Seite. Dann lässt er ihn los und dreht sich zu ihr um.
«Jesus hat nichts mit Religion zu tun. Jeder kann mit ihm in Beziehung treten, weil er immer hier ist. Weil er auferstanden ist, lebt und immer noch regiert.» Er kniet sich vor sie hin und nimmt ihre klammen, kalten Finger in seine Hand. Eine Welle unbeschreiblicher Gefühle durchflutet sie, als sie in seine Augen starrt, die wie Farben des Regenbogens leuchten und sie besser zu kennen scheinen, als sie sich selbst. «Jesus ist die Liebe. Deine Suche hat ein Ende. Er ist es, der das grosse Loch in deinem Herzen ausfüllen kann.»
Sie spürt eine unsichtbare Umarmung, die nicht nur ihren Körper, sondern auch die tiefsten Stellen ihres Herzens berührt. Nie hat sie sich geliebter gefühlt. Der Mann küsst ihren Handrücken. Und jede Mauer, die sie sie sorgsam um ihre Kratzer und Wunden gebaut hat, stürzt ein. Der erste Schluchzer bahnt sich einen Weg nach draussen. Tränen rinnen wie Bäche über ihre Wange, während der tiefe Schmerz in ihrem Herzen sie zu zerreissen droht. Seine Lippen bleiben auf ihrem Handrücken, und es ist, als saugten sie alles Leid ein. Sie hält sich an seinen Augen fest, die voller Liebe sind. Verständnisvoll. Barmherzig. Ohne Verurteilung. Ein tiefer Friede breitet sich aus, der grösser ist, als alles, was sie jemals erlebt hat. Sie ist bedingungslos angenommen, geliebt. Heil. Ganz.
Der Mann steht auf und zwinkert ihr zu. Seine Lippen bewegen sich. Doch statt mit ihren Ohren hört sie die Stimme in ihren Gedanken. Dieselbe Stimme, die sie auf dem Parkplatz gehört hat. Die Erfüllung deines tiefsten Wunsches sitzt links von dir. Sie blinzelt. Was ...? Der Mann geht weiter zu Theresa und küsst sie auf die Stirne.
Langsam dreht sie den Kopf nach links und begegnet geradewegs dem Blick von Leon. Er hat aufgehört zu zittern, aber seine Wangen sind immer noch etwas blass. Warum ist ihr das Blau in seinen grauen Augen nie aufgefallen? Sie schluckt gegen die plötzliche Trockenheit in ihrem Hals. Und warum hat sie immer nur den Porsche, den Anzug, die Krawatte gesehen? Das Geld und das scheinbar perfekte Leben? Aber Leon ist ein Mann, der sich nicht zu schade ist, sich zu einem Obdachlosen zu setzen. Der nicht zu überheblich ist, einen kleinen Jungen zu trösten. Der nicht zu stolz ist, einem Gefängnisinsassen die Hand zu schütteln. Vielleicht – vielleicht ist er genauso einsam wie sie? Sie versucht ihr Herz unter Kontrolle zu bringen, das einen eigenen Rhythmus schlägt. Vergebens. Sein Mund verzieht sich etwas hilflos zu einem schiefen Lächeln. Sieht er sie auch plötzlich mit anderen Augen?
Sie dreht sich zum Priester um, aber er ist verschwunden. Genauso wie die Türe neben dem Kreuz. Über Theresas Gesicht laufen Tränen und gleichzeitig strahlt sie, wie nie zuvor. Sie blicken einander an. Fragend. Und doch wagt keiner, die Stille zu brechen. Keiner will dieses übernatürliche Bad des Friedens, der Liebe und der Wunder verlassen. Ihr Blick wandert auf das schlichte Holzkreuz. Die Krippe.
Der Instagram-Account hatte nicht zu viel versprochen. Diese Begegnung hat sie verändert. Tief verändert. Als stimmte Leon ihren Gedanken zu, nimmt er ihre Hand und drückt sie. Er lässt sie nicht los, als sie zum Parkplatz zurückgehen. Wie ein Gentleman öffnet er die Türe ihres Autos. Sie starrt ihn an. «Das ist – das ist unmöglich.» … Mit zitternden Händen beleuchtet sie die Seite ihres Autos. Keine Schramme, keine Beule. Es ist makellos. Glänzend. Neu.
Autorin: Tanja