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Ich bin bei dir- meine Weihnachtsgeschichte
Ich bin bei dir- meine Weihnachtsgeschichte | (c) unsplash

Ich bin bei dir – eine Weihnachtsgeschichte

«Meine Weihnachtsgeschichte» - erzählt von Jürg
Publiziert: 17.11.2020

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Lorenzo wohnte, seit seine Frau vor ein paar Jahren gestorben war, allein in seinem kleinen, bescheidenen Haus in den nördlichen Bergen der Lombardei. Das Haus lag abgeschieden oberhalb eines kleinen Dorfes, in welchem unter der Woche nur noch ein paar ältere Leute lebten. An Wochenenden aber füllte sich das Bergdorf jeweils mit Heimweh-Heimkehrern – und dadurch kam immer wieder etwas Leben zurück in diese abgeschiedene Welt.

Von seinen drei Kindern hatte er eigentlich nur noch zur Tochter Loretta regelmässigen Kontakt, denn diese wohnte mit ihrer Familie nicht allzu weit entfernt in einem kleinen Ort in der italienischen Schweiz, dem Tessin. Seine beiden Söhne lebten irgendwo in fernen Ländern der Erde; einen hatte es in die USA verschlagen, den andern nach Australien. Und seit der Beerdigung seiner Frau waren diese nie mehr zu ihm zurückgekehrt. Warum auch, ihre Lebensumstände waren nicht so, dass Reisen zum alternden Vater auf oberster Prioritätsstufe standen.

Er hatte sich nach einer Zeit der Trauer um seine geliebte Maria in sein Schicksal geschickt, seine restlichen Tage einigermassen abgeschieden von der Welt oberhalb dieses Bergdorfes zu verbringen. Zwar vermisste er Maria immer noch sehr, aber die Leute im Dorf machten das Alleinsein für ihn erträglich – erst recht an den Wochenenden, wenn auch jüngere Leute in den Ort zurückkamen und ihn immer wieder zu sich einluden. In der Zeit um den Tod von Maria hatte er sich mit den Fragen zu beschäftigen, was wohl nach dem Tod mit einem geschehen würde, ob es denn tatsächlich ein Weiterleben der Seele geben würde, vielleicht sogar einen Gott und den Himmel. Doch je weiter zurück dieser Einschnitt lag, desto mehr verblassten auch diese Fragen, sodass er schliesslich die Auseinandersetzung damit mehr und mehr verdrängte, bis er sie endlich zur Gänze loswurde, diese unangenehmen Fragen.

Doch dann kam dieses vermaledeite Corona-Jahr, in welchem alle eingespielten, lieb gewonnenen Rhythmen mit einem Mal zum Erliegen kamen. Natürlich lebte er nicht losgelöst von dieser Welt, sondern war dank Radio und Fernsehen über das Weltgeschehen recht gut informiert. So war er im Frühjahr 2020 auch immer auf dem Laufenden, als in der Lombardei wegen dieses China-Virus, wie es auch genannt wurde, die Hölle los war. Und wie so vielen Menschen auf der Welt, hatten sich die Bilder von sterbenden Menschen in den Spitälern tief in sein Inneres eingegraben. Die Zeit des Lockdown in diesem Frühling war schwierig gewesen, aber irgendwie schafften es er und die anderen Dorfbewohner, mit viel auf Distanz bedachter gegenseitiger Hilfe, diese Zeit zu überstehen. Alle zusammen gehörten sie zur sogenannten Risiko-Gruppe, schon nur wegen des fortgeschrittenen Alters. Und dennoch war die Solidarität untereinander gross, sodass die Gefahr der Vereinsamung am Ende kleiner war als von vielen befürchtet.

Zurück in die Normalität?

Dann kamen Frühling und Sommer, Touristen kamen zurück in diese wunderschöne Bergwelt, und fast kehrte wieder so etwas wie die lieb gewonnene Normalität zurück. Das Corona-Virus schien überwunden – trotz der weiterhin dramatischen Zahlen von Erkrankungen in anderen Ländern. Doch diese scheinbare «Sicherheit» wurde mit einem Male brutal weggewischt, als die sogenannte zweite Welle mit voller Wucht auch über die Lombardei hereinbrach. Auf einmal wurde die gesamte Region wieder zur «Zona Rossa», zur roten Zone erklärt. Die Einschränkungen, die diese extremste Gefahrenzone mit sich brachte, waren brutal: Ausgehverbot, alle Restaurants und Läden zu, ja sogar der Verkehr zwischen jeweiligen Nachbargemeinden, selbst wenn diese sich organisatorisch zusammengeschlossen hatten, wurde unterbunden. Nur noch Fahrten mit sanitarischem Hintergrund waren erlaubt – oder solche mit einer speziellen Ausnahmebewilligung, für welche aber niemand in Lorenzos Dorf in Frage kam. So geschah es auch, dass Lorenzos Tochter Loretta, als sie ihn mit frischen Lebensmitteln versorgen wollte, am Zoll, an welchem sie normalerweise gänzlich unkontrolliert passieren konnte, abgefangen und zurück nach Hause geschickt wurde. Da half kein Bitten, Flehen, Lamentieren, Erklären der besonderen Umstände. «Zona Rossa» hiess nichts anderes als Sperrgebiet. Punkt. Basta!

Lorenzo, der noch im Frühjahr eine analoge Massnahme einigermassen schadlos überstanden hatte, wurde jetzt schwermütig. Schliesslich stand auch nicht der Sommer bevor, sondern der kalte, nackte Winter. Fast schon ein Wunder, dass wenigstens die Post noch ausliefern durfte. Und so fand er eines Morgens nebst Zeitung und Reklame (total unverständlich, dass da noch Reklame verschickt wurde, wenn man eh nichts kaufen konnte ...) eine Karte von der Grösse einer Postkarte vor, auf der in grossen Lettern stand: «Ich bin bei dir.» So sehr er sich den Kopf zerbrach, von wem diese Karte stammen konnte, so wenig fand er eine Erklärung. Nur, helfen tat ihm diese Karte nicht, ausser, dass sie ihm für einen kurzen Moment Ablenkung brachte.

Einsamkeit

Erst jetzt realisierte er, wie sehr er einsam war, und wie er ohne echte, physische Kontakte zu anderen Menschen zu leiden begann. Was nützte ihm die schöne Lage seines Hauses, was die intakte Natur um ihn herum, wenn er zu keinem anderen Menschen mehr Kontakt haben, nichts austauschen, nichts teilen durfte. Tag für Tag sass er, wenn es das Wetter erlaubte, auf der Holzbank vor seinem Haus und starrte vor sich hin. Drinnen hielt er es nicht mehr aus – und draussen war es auch nur ein klein wenig besser. Zwar hatte er wöchentliche Telefonate mit Loretta und zum Teil auch mit den geliebten Grosskindern. Und solange die Post noch funktionierte, konnte er dank der Essenspakete, jeweils 50 Meter vom Haus weg deponiert, auch körperlich überleben. Aber so einsam, wie er sich nun fühlte, hätte er auch genauso gut sterben können. Es würde niemanden kümmern.

«Ich bin bei Dir, alle Tage.» Eine weitere Karte, ganz analog zur ersten, entdeckte er eine Woche später wieder bei seiner Post. «Schlechter Scherz!», widerfuhr es ihm unwillkürlich. Niemand ist bei mir, n i e m a n d! Schon wollte er diese Karte, die ihn jetzt nur ärgerte, ins Feuer seines kleinen Holzofens werfen ..., aber irgendetwas hielt ihn zurück. Was, wenn doch etwas Bedeutendes dahintersteckte? So stellte er die Karte, über die er sich zuerst nur ärgerte, auf das Sideboard, ganz in der Näher jener ersten Karte, die er auch behalten hatte. In den täglichen Nachrichten schien es um nichts anderes mehr zu gehen als um Corona – und um das Riesen-Theater um die amerikanischen Präsidentschaftswahlen ... Ach, er konnte das schon alles gar nicht mehr hören. So stellte er immer häufiger den Fernseher gleich wieder ab – oder gar nicht mehr an und verkroch sich immer früher in sein Bett, um zu schlafen. Doch auch dieser Schlaf wurde immer weniger erholsam ...

«Ich bin bei dir, alle Tage, bis zum Ende dieser Welt», hiess es auf einer nächsten Karte, die ihn kurz vor Weihnachten erreichte. «Frechheit!», entfuhr es Lorenzo. Aber warum «bis zum Ende dieser Welt?» Sollte diese Welt etwa zu Ende gehen? Und er diesen Moment erleben? Abgeschieden von der Welt, wie er war? Kaum. Aber, die Sache wollte ihn fortan nicht mehr loslassen. Wer stand wohl hinter dieser seltsamen Aktion? So sehr er sich in den folgenden Tagen auch den Kopf zerbrach, er erhielt keine Antwort.

Weihnachten naht

Und dann kam Weihnachten. Insgeheim hatte Lorenzo gehofft, dass an Heilig Abend irgendetwas Unerwartetes geschehen würde; warum, konnte er auch nicht sagen. Aber es geschah nichts an diesem Abend, gar nichts. Er fühlte sich so verlassen und einsam wie nie zuvor in seinem Leben. Nicht einmal ein Anruf von Loretta und den Grosskindern erreichte ihn. Er war einfach nur allein ...

Dann, am Weihnachtstag, sass er vor seinem Haus auf der Bank und dachte über seine leise Erwartung und folgende Enttäuschung betreffend des Vorabendes nach. Auf einmal stieg ihm ein Geruch in die Nase, ein unglaublich wohlriechender Duft eines paradiesischen Essens. Ob er wohl träumte? Oder sich seine Sinne zu verselbständigen begannen? Irgendwann konnte er nicht mehr anders, als sich ins Haus zu begeben und nachzusehen, ob dieser Wohlgeruch aus seinem Haus stammen konnte. Und siehe da, in seiner Wohnküche stand ein unbekannter Mann, der ein Festessen zuzubereiten schien. Er ging auf diesen zu und fragte spontan: «Wer bist Du?» «Ich bin der, der ich bin», entgegnete ihm der Fremde. «Und was machst Du hier?», fragte Lorenzo. «Ich koche für uns beide ein feines Essen, so, wie es diesem Festtag entspricht.» «Aber warum?», wollte Lorenzo wissen. «Weil Du allein und einsam bist, Lorenzo; und weil ich Dir versprochen habe, dass ich bei Dir bin alle Tage, bis zum Ende Deiner Tage. Komm und iss, heute bist du mein Gast!»

Autor: Jürg

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