Von Georges Morand
«Ohne meinen Papa wäre ich nichts. Also schon mal rein biologisch gesehen, haha. Aber auch beruflich. Er hat mir die ersten 100 Türen meiner Karriere geöffnet. Kuss an dich, André!» So schrieb ein erwachsener Sohn einen Post auf der Business-Plattform LinkedIn. Das ist Dankbarkeit pur.
Über Dankbarkeit einen Leitartikel zu schreiben, ist ein undankbarer Job. Das Thema ist ausgelutscht, ausgepresst wie eine Zitrone, die keinen Saft mehr hergibt. Tausende von Vorträgen, Leitartikeln und Büchern wurden darüber geschrieben. Die positive Psychologie hat das Thema in den letzten 20 Jahren erforscht und hat aufgezeigt, wie enorm bedeutend Dankbarkeit für das Leben von Gesunden und Kranken ist. Die Hirnforscher/innen haben aufgezeigt, was Dankbarkeit in unserem Hirn und damit mit unseren Hormonen macht. Dass das uralte Zitat von Sir Francis Bacon «Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind» zutrifft, hat die Hirnforschung bestätigt. Dankbarkeit löst eine Ausschüttung des Glückshormones aus. Es lohnt sich alleweil, sich ein Leben lang mit dem Thema zu beschäftigen und zu lernen. Also doch nicht ausgelutscht?
Eine inspirierende Fragereise
Gute Fragen bewirken einiges, was Antworten kaum schaffen. Ob Sie sich mitnehmen lassen auf eine inspirierende Fragereise, die Sie hoffentlich ins Nachdenken führt? Ist Dankbarkeit eigentlich eine Quelle oder eine Frucht? Wo und wie konkret prägt Dankbarkeit mein Sein? Wo nicht? Wann, bei wem, wo und wofür bin ich wirklich dankbar und wo spiele ich nur das Game der Dankbarkeit? Wann und wo ist es eine Herzenshaltung, wann ein anständiger und nützlicher Deal? Kann ich Dankbarkeit bei mir und anderen initiieren oder einfordern?
Was zeichnet dankbare Menschen aus? Woran erkenne ich sie? Was machen sie anders als Undankbare? Wie kann ich dankbarer werden? Womit verhindere ich die Haltung der Dankbarkeit? Was müsste sich in meiner Haltung, in meiner Sichtweise, in meinem Weltbild, Gottesbild und Selbstbild verändern, wenn echte Dankbarkeit mehr Raum bekommen soll? Was würde sich dadurch in meinem Leben ändern? Muss sich die Welt um mich drehen, sich ohne Schatten und Leid zeigen, um dankbar sein zu können? Wie stark hängt meine innere Dankbarkeit von den äusseren Umständen ab? Wenn ich zunehmend Frieden schliesse mit mir, mit meiner Situation, mit Gott und Mitmenschen, mit einer unperfekten Welt, würde mehr Dankbarkeit spriessen können?
Wie und womit könnte ich meiner Undankbarkeit und Unzufriedenheit die Luft rauslassen? Was kann ich tun, dass ich mich im Undank nicht zu lange festbeisse und bei Enttäuschungen und negativen Gefühlen schneller umschalte?
Welche Bedeutung soll Dankbarkeit in meiner nächsten Lebensetappe bekommen? Wer oder was könnte mich daran hindern? Wer oder was könnte mich dabei unterstützen? Welches Sperrbild bei meinem Smartphone oder Computer könnte ich einrichten, das es Dankbarkeit in mir auslöst? Welche Playlist könnte ich mir zusammenstellen, die mich in das Glück der Dankbarkeit hineinlocken könnte? Welche Bücher, Podcasts oder Freunde provozieren mich Richtung Dankbarkeit? Und so weiter … Solche Fragereisen halfen mir immer wieder durch die erste Oberflächlichkeit eines Themas hinab in die Tiefe abzutauchen.
In meiner Kindheit tausendfach gehörte Sätze wie «Danken schützt vor Wanken – loben zieht nach oben» oder «Sei dankbar!» bewirken in mir bis heute eher Magenkrämpfe als Lust auf Dankbarkeit. Das ist nicht mein Weg. Hilfreicher für mich wäre gewesen, wenn ich früher begriffen hätte, dass Klagen und Dankbarkeit unzertrennliche Freunde und nicht Feinde sind. Und dass ein Zuckerguss-Christentum, das vermeintliche Wegloben von Schmerzlichem und die Alles-ist-gut-Heiligkeit, früher oder später in eine Enttäuschung mündet. Ich wünschte, Menschen meiner Kindheit hätten mich schauen, riechen, schmecken und wahrnehmen gelernt und wie man achtsam und wachsam durch die Welt geht. Es ist nie zu spät, damit anzufangen. Seit vielen Jahren übe ich, achtsam zu leben. Dabei hat es direkten Einfluss auf meine Dankbarkeit und Zufriedenheit.
Die Bibel redet viel von Dankbarkeit – direkt oder indirekt Sie ist ungeschönt und sehr ehrlich. Von den 150 Psalmen (Gedichte, Lieder, Gebete) zum Beispiel sind um die 70 deftige Klagepsalmen. Da fliegen die Fetzen. Wut und Anklage haben da ihren Platz, manchmal mehr als uns lieb ist. Andererseits lesen wir z. B. «schmeckt und seht wie freundlich/gütig Gott ist.» Heute würden wir vielleicht sagen, geniesst Gott in vollen Zügen, kostet ihn. Es ist ein aufmerksames «auf der Zunge zergehen lassen», eine Art genüssliches Verinnerlichen. Gemeint ist auch ein Sehen, Schauen, Wahrnehmen, Achtsam-Sein, Verweilen, Staunen oder auch Inhalieren der Güte und Grosszügigkeit Gottes.
Geniessen können, ist eine Form von Dankbarkeit Wer geniessen kann, lebt in einer anderen Liga. Das habe ich in meinen 64 Jahren oft erlebt – bei mir selbst und bei anderen. Und: «Wer nicht geniessen kann, wird ungeniessbar», sagt der Volksmund. Warum wohl? Das Nicht-geniessen-Können und die Undankbarkeit sind beste Freunde.
Achten Sie mal darauf, wenn Sie für jemanden kochen, ob Ihr Gast das Gekochte in sich hinein schaufelt und dabei seine News vom Tag erzählt oder ob jemand in Ruhe das Essen schmeckt, es riecht und auf der Zunge zergehen lässt. Wem wohl flutscht ein herzhaftes «Merci» leichter und herzhafter über die Lippen, obwohl das Geniessen des Gastes schon längst genug Wertschätzung wäre?
Ein lohnenswertes Auf und Ab
Manchmal falle ich wieder auf Level 1 zurück. Macht nichts, Hauptsache ich bleibe dort nicht stecken. Stattdessen mache ich mich auf den Weg, hangele mich z. B. durch die einzelnen Levels, halte sie mir vor Augen, bis die Dankbarkeit mich wieder erfasst. Meine Herangehensweise ist Selbstgrosszügigkeit statt Selbsterniedrigung, Selbstfreundschaft statt der Feind meiner Selbst zu sein. Da halte ich es nicht mit Kant «Dankbarkeit ist Pflicht». Imperative verändern mein Herz und meine Haltung kaum. Ich halte mir das Gute, das Mögliche, das Gelingende vor Augen, koste das geschenkte Leben, inhaliere die Grosszügigkeit Gottes, stelle mich unter den Sternenhimmel oder schreibe Tagebuch – dann macht sich langsam wieder Achtsamkeit breit, deren Nebenprodukt Dankbarkeit ist.
Dankbare sind achtsame und bewusste Menschen. Viele Mystiker haben sich meist ein Leben lang mit den Themen Achtsamkeit und dem antiquierten, aber treffenden Wort «Erwachtheit» auseinandergesetzt. Heute sagen wir eher wach oder präsent sein, bewusst leben. Das zeichnet dankbare Menschen eindeutig aus. Undank entsteht im nicht Präsentsein, im unbewussten Leben, das eingelullt ist von Gedankenlosigkeit, Selbstverständlichkeiten, Überfluss und der Meinung, das Recht auf etwas zu haben.
Klingt etwas davon an bei Ihnen? Dann helfen Ihnen vielleicht diese zwei möglichen Konkretisierungen, mit denen Sie morgen starten und erste Schritte tun können:
Wacher und präsenter werden
Dankbarkeitslevel verinnerlichen und durchleben
Wählen Sie sich einen Dankbarkeitslevel aus und nehmen Sie ihn in dieser Woche mit. Leben Sie mit ihm. Schaffen Sie sich Erinnerungshilfen. Beobachten Sie, was es mit Ihnen macht. Fragen Sie sich am Abend, wofür Sie dankbar sind.
Übrigens: Wir sind zu Gast auf einem schönen Stern – gute Reise!
4. Dankbarkeit für die Rahmengestalter unseres Alltagslebens, z. B. Behörden, Schule, Sozialversicherungen, ÖV, Entsorgungsstationen, Kläranlagen, Verkehrsregelung, Fussgängerstreifen, Arbeitgeberin, Politik, Gerichte, Polizei usw. Die alte Leier des/der Bünzlischweizer/ in ist, sich über die Steuern, die heutige Zeit und «die in Bern» zu beschweren. Menschen in diesem Dankbarkeitslevel sehen das anders. Sie sind dankbar, dass die Enkelkinder in Kindergarten und Schule gefördert werden, die KESB ihren wichtigen Dienst oft am Rande der Gesellschaft tut, wovon die meisten lieber die Finger lassen, über die Pünktlichkeit des ÖVs, für die stets vollen Regale im Lebensmittelladen, für die Entsorgungs- und Recyclingstation. Das betrifft genauso das Private. Für dankbare Menschen wird immer weniger selbstverständlich. Verwöhnte meinen, alles sei selbstverständlich.
5. Dankbarkeit für alles Stille und Normale in unserem Alltag. Auf dem Balkon, im Garten, auf den Feldern und Wäldern wächst es still vor sich hin. Das Wasser fliesst selbstverständlich aus dem Hahn, das tägliche Brot ist da, Luft zum Atmen. Dankbare in diesem Level sehen zunehmend das Selbstverständliche als Geschenk. Dankbare leben als Beschenkte.
6. Dankbarkeit dem Leben, der Natur und Gott gegenüber und darüber, dass ich auf dem kleinen Planeten Erde leben darf, der durch das unendlich grosse Universum fliegt, wo Kälte, Dunkelheit und kaum Leben zu finden sind. Helmut Thielickes Buchtitel sagt treffsicher «Zu Gast auf einem schönen Stern». Mich berührt diese Formulierung. Dankbarkeit ist das Gegenteil von Plünderung und Raubbau dieser unfassbar schönen Kugel.
7. Dankbarkeit für das Mögliche in allem Fehlenden, Schmerzlichen, Unmöglichen und Nicht-mehr-Möglichen. Dankbar für das Gelingende in allem Nicht-Gelingenden.
8. Dankbarkeit über den göttlichen Beistand im Schmerzlichen, Leid und Verlust. Das Kennzeichen dieser Stufe ist, sich auf der Lebensreise in Gottes Hand zu wissen. Wenn es immer wieder mal gelingen kann, dass wir uns an Gottes Nähe erfreuen, statt ihn für ein schmerzfreies Leben zu beknien, ist die Dankbarkeit bei einer tiefen geheimnisvollen Quelle angekommen.
9. Dankbarkeit als Grundhaltung, ALLES als GESCHENK zu sehen, selbst die eigenen Errungenschaften und Verdienste. Puuh, das ist eine Kunst, die niemand ganz beherrscht. Aber doch immer wieder mal unser Sein erfassen kann. Mit solchen Menschen will ich zusammen sein und mich von ihnen inspirieren lassen.