Von Lajescha Dubler
Sie hat die Farbe der sanften Hügelzüge Irlands. Die unermessliche Weite des Meeres, die am Rand der Klippen nach mir ruft. Sie ist wie das Ziehen im Bauch, wenn ich zu lange nichts mehr gegessen habe. Ich spüre etwas von ihr, wenn ich unter einem klaren Sternenhimmel sitze und ins Unendliche blicke. Manchmal zerreisst sie mich fast, so stark ist sie. Doch sie umgibt mich auch beständig wie ein leiser, zarter Hauch – als möchte sie mich daran erinnern, dass es noch ein Geheimnis zu entdecken gibt.
Sehnsucht ist ein roter Faden, der sich durch mein Leben zieht. Ich habe sie schon als Kind gespürt. Dieses unfassbare Ziehen, Drängen und Locken nach mehr Tiefe, mehr Weite, mehr Höhe. Ich habe versucht, sie zu ergründen – schon früh mit Musik, dann mit Tanz, später auch mit Texten. Oft fehlten mir die Töne, Instrumente, Worte oder schlicht und einfach die Fähigkeiten, um das auszudrücken, was ich innerlich spürte. Doch ich höre sie aus jeder Komposition und jedem Text heraus, die ich jemals geschrieben habe. Sie ist da.
Spüren Sie diese Sehnsucht auch?
Wie drückt sie sich in Ihrem Leben aus? Oft suche ich in Gesprächen eine «Sehnsuchts»-Resonanz in meinem Gegenüber. Dann höre ich nicht selten: «Ach, du kannst froh sein. Du hast deine Musik. Ich hingegen habe keine Leidenschaft. Ich wüsste gar nicht, was es sein könnte.» Doch der Unterschied, davon bin ich mittlerweile überzeugt, ist nicht eine spezifische Begabung oder ein besonderes Talent. Das, was den Unterschied ausmacht, ist die Sehnsucht – und die ist in uns allen angelegt.
Die Sehnsucht ist ein Spannungsfeld in der menschlichen Existenz. Sie ist «Krankheit» (A. Grün) und Lebenselixier zugleich. Wir können entscheiden, ob wir sie zulassen. Wenn wir ihr gewähren, an die Oberfläche unseres Seins zu steigen, löst sie unter Umständen widersprüchliche Gefühle und Empfindungen aus. Plötzlich wird uns bewusst, dass es einen Teil in uns gibt, den wir nicht füllen können. Wir erkennen: «Alles, was ich hier tue, kann mich nicht richtig satt machen.» (A. Grün)
Gott möchte diesen Hunger: Er macht uns zu Suchenden, die immer vorwärtsdrängen, auf das zu, was er für uns bereithält. Wenn wir uns satt fühlen, dann suchen wir nicht mehr. Wenn dieses Sehnen nicht mehr Teil von uns ist, werden wir träge und antriebslos.
Es gibt einen Grund, weshalb uns die Sehnsucht an ganz spezifischen Orten oder in bestimmten Momenten überfällt. Es ist meist dann, wenn wir in irgendeiner Form allein dem Universum gegenüberstehen und erkennen, dass wir es letztendlich nicht erfassen können. Das ist die Erkenntnis Gottes – und die Sehnsucht nach ihm. Das Sehnen nach einer Liebe, die nur bedingt von einem menschlichen Gegenüber gesättigt werden kann. Wir brauchen diese Momente, sonst bleibt die Sehnsucht auf der Strecke. Gott möchte, dass ein Teil in uns unerfüllt bleibt. Wenn wir diesen Teil mit irdischen Dingen füllen könnten, dann gäbe es keinen Grund mehr, ihn zu suchen.
Viele Menschen sind davon überzeugt, dass sie Gott nicht brauchen
Doch das ist eine Illusion. Alles in unserer Gesellschaft deutet darauf hin, dass sie süchtig danach ist, dieses Sehnen zu stillen. Sucht, so Anselm Grün, ist letztendlich verdrängte Sehnsucht. Wir alle haben Süchte und «Betäubungsmittel», mit denen wir unsere Leere, Momente der Einsamkeit oder Enttäuschung kompensieren versuchen. Mit Arbeit, Sport, Vergnügen, oberflächlichen Beziehungen, Social Media und Konsum jeglicher Art verhindern wir, dass sich Sehnsucht in uns breit macht. Sie macht uns Angst – und doch spüren wir, dass wir sie brauchen.
Hat Sehnsucht einen Platz in Ihrem Leben? Oder ist Ihr Leben so ausgefüllt, dass dieses Sehnen gar nie stattfinden kann? Sie es gar nicht spüren? Wir alle sehnen uns zeitweise nach einer geliebten Person, nach unvergesslichen Momenten in den Ferien. Aber es gibt auch eine unergründliche Sehnsucht, die sich nicht so einfach mit Worten beschreiben lässt. Das ist die Sehnsucht, die Gott in Sie hineingelegt hat. Es ist dieser tiefe Wunsch, dieser unfassbaren Liebe, die alle Erkenntnis übersteigt, auf die Spur zu kommen.
Als Künstlerin versuche ich diese Sehnsucht in Musik oder Worten zum Ausdruck zu bringen. Aber letztendlich ist sie eine Lebenshaltung, keine Ausdrucksform. Sie ist eng verbunden mit Hoffnung. Hoffnung auf das, was noch kommen wird. Hoffnung wiederum hat etwas mit Neugier zu tun. Die Neugier, was Gott für mein Leben bereithält. Die 95-jährige Beststeller-Autorin und Auschwitz-Überlebende Edith Eger sagt, dass die Neugier sie am Leben erhalten hat. Sie wollte weiterleben, um das zu sehen, was noch kommt. Auch wenn alle gesagt haben, dass sie das KZ nicht lebend verlassen werde.
Sehnsucht ist manchmal auch mit Schmerz verbunden
Manche Träume und Illusionen müssen wir irgendwann beerdigen, betrauern und loslassen. Oft begehen wir jedoch den Fehler, dass wir die Sehnsucht mit zu Grabe tragen. Es scheint uns einfacher, ohne sie zu leben – denn unerfüllte Sehnsucht ist zeitweise fast nicht aushaltbar. Aber sie ist eben auch die Kraft, die uns in unserer menschlichen Existenz so einzigartig macht. Sie hält uns lebendig und treibt uns vorwärts. Auf das zu, was wir zwar nie vollständig erfassen werden, aber immer in uns drin spüren. Sie lässt uns jung bleiben, auch wenn wir äusserlich zerfallen. Spüren Sie diese Sehnsucht in Ihrem Leben? Diese Kraft, die Sie jeden Tag mit Neugier und Hoffnung erfüllt? Oder stehen Sie am Morgen desillusioniert auf und kommen am Abend erschöpft und ausgelaugt nach Hause? Sehnen Sie sich nach mehr Lebendigkeit und Sinnhaftigkeit? Vielleicht ist es Zeit, dem Friedhof Ihres Lebens einen Besuch abzustatten. Diesem Ort, wo Sie Ihre Träume begraben haben. Wo die Enttäuschungen, zerbrochenen Illusionen und Bruchstücke Ihrer Vergangenheit liegen, mit denen Sie nichts mehr anfangen können. Dort haben Sie wahrscheinlich auch Ihre Sehnsucht zurückgelassen. Die Träume werden vielleicht nicht mehr auferstehen. Aber die Sehnsucht: Die wartet (sehnsüchtig) darauf, wieder Teil Ihres Lebens zu werden.