Von Beatrix Böni
Die letzten Monate zeigen immer offensichtlicher: Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft das Problem Nummer eins geworden. Wer sich an dieses Thema herantastet, erahnt eine komplexe Angelegenheit, auf die es keine billige Antwort geben kann. Schon deshalb nicht, weil die Einsamkeit viele Gesichter hat, also von jedem Individuum subjektiv empfunden und durchlitten wird.
An manchen Stellen wuchert die Einsamkeit noch recht verborgen. Dies alles könnten Gründe dafür sein, warum die Meinungen über Einsamkeit weit auseinanderdriften. Zu Irritationen führt es auch, wenn die Begriffe «Einsamkeit» und «Alleinsein» in einem Atemzug genannt werden, als ob es sich dabei um ein und dasselbe handeln würde.
Auf der Suche nach einer DefinitionBei den Fragen, was Einsamkeit ist, wie wir ihr begegnen und sie allenfalls überwinden können, sind mir die Sätze aus dem Vorwort von Manfred Spitzers Buch über Einsamkeit zur Richtschnur geworden: «Stellen Sie sich vor, es gäbe eine Krankheit, die hierzulande immer häufiger auftritt und chronische Schmerzen verursacht – eine ansteckende, von der medizinischen Wissenschaft noch kaum erforschte Krankheit, die sich schneller ausbreitet, als die Immunität gegen sie aufgebaut werden kann, und die als eine der häufigsten Todesursachen in der zivilisierten westlichen Welt eingestuft wird. Eine Krankheit, die das Aufkommen anderer Leiden begünstigt, von Erkältungen über Depressionen und Demenz bis hin zu Herzinfarkten, Schlaganfällen und Krebs. Diese Krankheit wäre mithin ein bedeutender Risikofaktor für andere häufige und tödliche Krankheiten. Zugleich wäre sie tückisch, denn viele Betroffene wüssten gar nicht, dass sie an ihr leiden. Diese Krankheit gibt es tatsächlich. Ihr Name: Einsamkeit.»
Entsprechend dieser Beschreibung geht es nicht nur um undefinierbare Empfindungen oder Symptome, sondern um eine Krankheit mit diversen Schmerzstellen! Dies hilft auch zum Differenzieren, damit Alleinsein und Einsamkeit nicht gleichgesetzt werden.
Vor Jahren ist mir eine seelsorgerliche Kleinschrift mit dem Titel «Such dir einen Einsamen» in die Hände geraten. Ich überlegte vor dem Reinschnuppern, ob darin wohl eine Einladung zum Ausstieg aus dem stressigen Alltag skizziert würde. In meinem Innern hoffte ich nämlich auf weiterführende Impulse, weil mich der Lebensstil der frühen Mönche interessierte und ich mir gerne eine Zeit der Kloster-Ruhe einplanen wollte, um ein mögliches Burnout zu umschiffen. Ich hoffte auf neue Impulse für Kreativität und Vitalität.
Allerdings fand ich in der erwähnten Schrift nicht mein erhofftes Wunschthema. Die Autoren Reinhard Abeln und Anton Kner verweisen mit klaren Worten darauf, dass der an Einsamkeit und sozialer Isolation Leidende ein verlässliches Du braucht und auf Hilfe von aussen angewiesen ist. Denn der in sich selbst Zurückgezogene, der in sich selbst Eingekesselte, sei unfähig, seine persönlich verborgene Not seiner Umgebung offenzulegen. Dazu fehle ihm die Kraft. Traurigkeit, Lebensunlust und Verlassenheitsgefühle würden die noch vorhandene Energie schmälern und lähmend wirken.
Entsprechend ist «Such dir einen Einsamen» bis heute ein Appell an die Gesunden, das gemeinschaftsfördernde Gebot der Nächstenliebe konkret werden zu lassen und die Not zu lindern.
Fast vierzig Jahre in Selbstisolation
Unweigerlich werde ich hier an eine Story aus dem Johannes-Evangelium erinnert. Obwohl sich das Geschehen bereits vor 2000 Jahren zugetragen hat – an Aktualität hat es nicht verloren. Abgespielt hat es sich bei einem grösseren Teich umgeben von einem trostlosen Lazarett mit unzähligen Kranken und vor sich hinsiechenden Leuten. Jeder dieser Menschen erhoffte sich durch die Kraft des Thermalbades Heilung oder mindestens Schmerzlinderung. Details zu diesen Schicksalsgeschichten fehlen. Nur von einem der Leidtragenden weiss man Näheres. Dass er sich nämlich mit unvorstellbarer Ausdauer ganze 38 Jahre lang in
Regelmässigkeit dort aufgehalten hat – durch irgendeine Art Lähmung handicapiert, wahrscheinlich mit schwindender Hoffnung, dass es vielleicht doch irgendwann auch für ihn klappen müsste. In diese Skizze hinein wird von einem knappen Dialog berichtet. Von einem, der bei oberflächlichem Hinhören wie ein Affront tönt, als nämlich Jesus ihn fragte: «Willst du gesund werden?»
Auf Anhieb wirkt diese geschlossene Frage, die nur ein Ja oder Nein zulässt, befremdend, abstossend, wie eine Ohrfeige. Sie zeigt nichts von Empathie und hat nicht den Charakter von seelsorgerlicher Fachkompetenz. Kein Wunder, dass der Gelähmte die Frage ignoriert, dafür unmissverständlich sein tiefstes Problem, seine ureigentliche Schmerzstelle zur Sprache bringt: «Ich habe keinen Menschen, ich habe niemanden, der mir hilft, in den Teich zu kommen.»
Statt nur ein Etwas – ein personales Du
Das ist es: Die zentralste Not namens Einsamkeit ist die Distanz von und zu Mitmenschen. Und ganz klar: Der Einsame braucht nicht etwas, sondern ein Du! Ein Du, das dem Leidenden die zerstörte Hoffnung aufleben lässt:
Wir werden durch ein Du, sprich durch ein Gegenüber, wieder zum Ich. Jesus bringt die Trostlosigkeit zur Wende, indem er den direktiven Dreiklang formuliert: «Stehe auf, nimm dein Bett und gehe hin.» Damit dreht er die Sache um 180 Grad! «Steh auf – bleib nicht in der gegenwärtigen Misere hocken – und nimm eine neue Haltung ein! Mach die Bewegungen, die dir neu möglich sind! Und deine Matte, die dich bis anhin getragen hat, – trage du sie!»
Jesus traute dem von der Vergangenheit gezeichnete Mann einiges zu. Etwa einen neuen Umgang mit sich selbst und der eigenen Lebensgeschichte! Und der vom kompetenten Du Angesprochene getraute sich Schritte – hinein in die Heilung.
Als aussenstehende und beobachtende Person denke ich, wie schön es wäre, wenn es uns gleicherweise wie Jesus möglich wäre, mit prägnanten Worten die Leidenden aus ihrem körperlichen und seelischen Gelähmt-Sein herauszukatapultieren. Stattdessen müssen wir uns oft mit der mühsamen Arbeit der Anamnese beschäftigen. Denn therapeutische Hilfe steht in enger Verbindung mit der eigentlichen Herkunft des Leidens. Auch wenn Einsamkeit subjektiv erlebt wird, ist es wesentlich zu wissen, warum und wie ein Leidensweg begonnen hat. Bei einer Person fängt es mit einem freiwilligen Rückzug an, einfach aus Lust an der Stille, irgendwann reisst dann der Beziehungsfaden und das Miteinander gerät in Vergessenheit.
Eine andere Person erlebt wegen körperlichem Handicap das soziale Leben zu erschwerend und zieht sich deshalb aus dem Umfeld zurück. Der da und dort gehörte Gedanke «für andere nicht mehr interessant oder gar ein Hindernis zu sein» findet nicht nur in den Köpfen älterer Leute statt. Rückzug in die Einsamkeit kommt auch dort vor, wo sich nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen oder geliebter Dinge das Herz nicht erholen kann und die Trostlosigkeit überhandnimmt.
Damit aus Einsamkeit Gutes wird
Unser Titel ist ja nur ein angefangener Satz und sucht nach Weiterführung – und zwar nicht im Sinne von Betty Bossi, die ein Rezept vorschlägt, nach dessen genauer Ausführung das gaumenfreundliche Resultat präsentiert werden kann. Auch das Prinzip «Ärmel hochkrempeln und auf die Zähne beissen» bringt nicht unbedingt die ersehnte Freiheit.
Als wir einmal über die Worte sprachen «der Mensch macht seine Erfahrung» oder «ich mache meine Erfahrungen», ist mir ein Licht aufgegangen. Dieser oft nebenher gesprochene Satz ist meist ein unbewusstes Bekenntnis. Eines eben, über das wenig nachgedacht wird. Denn «ich mache» bedeutet, dass ich aktiv bin – in Gedanken oder Handlungen. Ein Engagement bedeutet immer, tätig zu sein. Das gilt auch in der Beziehungsgestaltung, in der ich eben nicht bloss ein ans Schicksal ausgeliefertes Wesen bin, sondern mich den Aufgaben zu stellen habe.
Und genau um diesen Prozess geht es beim Weg in die neue Freiheit: gemeinsam einen gangbaren Weg mit angemessenen Schritten zu planen und zu gestalten.
Für den Helfenden gilt es, sich vorzeitig der von Jesus formulierten Selbstreflexion zu stellen: «Bevor mit den Bauarbeiten begonnen wird, überschlage die Finanzen, damit klar wird, ob das Vorhabenausführungsfähig und bezahlbar ist.» Übersetzt heisst das: Der Einsame muss sich auf einen verlässlichen Wegbegleiter und dessen langen Atem verlassen können.
Konkrete Schritte – zum Guten hin
Zu guter Letzt wünsche ich uns allen von ganzem Herzen, dass wir hoffnungsvoll im Leben stehen, mit dem uns Anvertrauten liebevoll umgehen und aus freier Kehle mit Manfred Siebald singen können: «Ich bin zuhaus in meiner Haut. Kein Ort auf dieser Welt ist mir so wohl vertraut. Gott hat mir dieses Haus gebaut; am ersten Tage zog ich ein, und bin so lang ich leb’, zuhaus in meiner Haut.»