Von P. Anselm Grün
GOTT IST für mich der, vor dem ich nichts verbergen kann, aber auch nichts zu verbergen brauche. Gott ist für mich der, der mich in die Wahrheit führt. Aber es ist die Wahrheit, von der Jesus sagt: «Die Wahrheit wird euch befreien.« (Johannes 8,32) Ich darf vor Gott meine ganze Wahrheit zulassen, weil ich weiss: Alles in mir darf sein. Gott nimmt mich an mit allem, was in mir auftaucht, auch wenn es noch so schambesetzt ist, auch wenn es noch so meinem eigenen Idealbild von mir selbst widerspricht. Und Gott ist der, der alles in mir zu verwandeln vermag. Daher darf ich Gott alles hinhalten, was in mir ist, auch das Dunkle, Chaotische und Beschämende.
Gott ist für mich der, der in Jesus Christus herabgestiegen ist zur Erde, der herabgestiegen ist in das Schattenreich meiner Seele, in all das, was ich in meinem Leben verdrängt habe, weil es nicht meinen Vorstellungen von mir entspricht. Es ist das christliche Gottesbild, das uns in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus aufleuchtet. Im Credo bekennen wir von Jesus, dass er «um uns und unseres Heiles Willen herabgestiegen ist vom Himmel». Für mich hat das keiner so gut verstanden wie Wolfgang Amadeus Mozart, der in seinen Credo Vertonungen das «descendit» in den Mittelpunkt stellt. So wird in der Musik Mozarts Gott für mich hörbar. Es ist der Gott, der herabsteigt in das tiefste Dunkel unserer Seele, um alles in uns zu verwandeln. Daher ist die Musik Mozarts für mich keine oberflächliche Musik. Es ist die Freude und Leichtigkeit, die aus der Verwandlung alles Dunklen und Schmerzvollen entstehen.
Gott ist für mich der, der Himmel und Erde erschaffen hat. Aber er ist für mich zugleich der, der in mir wohnt. Und dort, wo Gott in mir wohnt, bin ich frei von den Erwartungen der Menschen. Dort, wo Gott in mir wohnt, bin ich ganz ich selbst. Gott befreit mich zu mir selbst. Er befreit mich von dem Druck, mich selbst darstellen, beweisen, rechtfertigen zu müssen. Dort, wo Gott in mir wohnt, darf ich manchmal das Einssein mit ihm erfahren. Aber es ist ein Einssein, das mich zugleich mit allen Menschen und mit dem ganzen Kosmos verbindet.
Gott ist für mich der, der den Menschen kennt, weil er selbst Mensch geworden ist, und alles Menschliche mit uns geteilt hat: Schmerz und Leid, Schande und Schmach. Aber in Christus hat er das Leid überwunden, indem er ihn von den Toten auferweckt hat. So ist Gott für mich der, der mir in Tod und Auferstehung Jesu die Hoffnung schenkt, dass alles in mir verwandelt werden kann: Dunkelheit in Licht, Schmerz in Freude, Erstarrung in Lebendigkeit und Scheitern in einen neuen Anfang.
Zur Person
P. Anselm Grün ist Mönch der Benediktinerabtei Münsterschwarzach. Bekannt wurde er als Autor spiritueller Bücher. Er veröffentlicht auf YouTube und seiner Facebookseite immer sonntags die Auslegung des Evangeliums als Video.
Serie Gott ist …
Wie oder wer ist Gott eigentlich? Diese Frage beschäftigt die Menschen schon lange. In der Bibel werden unterschiedliche Bilder gebraucht, um Gott zu beschreiben. In einer Serie teilen Theologinnen und Theologen aus verschiedenen Denominationen ihre Vorstellungen, wie Gott ist.