Von Christoph Zingg
Ich werde oft gefragt, was denn eigentlich «Diakonie» bedeute, und ob der Begriff nicht unverständlich oder altbacken sei und ersetzt gehöre durch «kirchliche Sozialarbeit» zum Beispiel. So einfach ist es nicht. Ich befürchte, dass in dem Moment eine der für mich persönlich bewegendsten Eigenschaften Gottes vergessen und verloren gehen würde: Gott ist Diakonie. Warum?
Diakonie im weitesten Sinn wird gerne mit «Gastfreundschaft» übersetzt. Zu Jesu Zeiten, die stark von dem geprägt waren, was im Römischen Reich von der griechischen Kultur weiter gepflegt wurde, lagen die Menschen – wenigstens die, die es sich leisten konnten – zum Essen auf bequemen Chaiselongues auf der Seite, durch dicke Kissen gestützt. Die Speisen, die auf niederen Tischen angerichtet wurden, waren so aber schwierig zu erreichen. Deshalb bedienten Tischdiener die Speisenden. Dieses «Zu-Tische-Dienen» ist ein Bild, welches die Vorstellung von Diakonie Hunderte von Jahren geprägt hat. Umso mehr, als dass in der Auffassung der jungen Christengemeinden auch Menschen «zu Tische» eingeladen wurden, deren Herkunft und Status umstritten war. Ganz nach dem Vorbild Jesu, der mit Sündern und Zöllnern und anderen Marginalisierten gemeinsam ass.
Wörtlich geht der Begriff Diakonie auf «dia konos» zurück und bedeutet: «Der, der durch den Staub geht. Der weite Wege geht. Der sich schmutzige Füsse, Blasen und aufgerissene Fusssohlen holt. Dem kein Weg zu beschwerlich ist.» Gerne erinnere ich mich an das Gleichnis vom verlorenen Schaf in Lukas 15, 4–7. Die Stützen der Gesellschaft kritisierten Jesus von Nazareth eben dafür, dass er mit Zöllnern und Sündern ass und feierte. Der Nazarener antwortet ihnen:
«Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er's findet? Und wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schultern voller Freude. Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut Euch mit mir.»
Gott ist der Hirte, der seine Schafe sucht, jedes einzelne, und dem kein Weg zu weit und zu beschwerlich ist. Gott ist «dia konos», Gott ist, der durch den Staub geht, damit keines seiner Geschöpfe verloren geht. Und er macht sich immer neu auf den staubigen, beschwerlichen Weg.
Im Sozialwerk Pfarrer Sieber, einem durch und durch diakonischen Werk, sind wir täglich unterwegs zu und mit Menschen, die von einem schwierigen Leben gezeichnet sind: Sie haben keine Wohnung, kein Obdach, leben auf der Strasse oder in wechselnden Abhängigkeiten. Sie sind arbeitslos, ausgesteuert. Sie sind einsam, verwahrlosen äusserlich und innerlich. Sie sind suchtkrank, von Gewalt und Missbrauchserfahrungen traumatisiert. Der Weg zu diesen Menschen und ihren Herzen ist beschwerlich. Eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen dauert oft Jahre und Fortschritte und Rückschläge halten sich die Waage. Gott, der «dia konos» ist uns darin Leitung und Ermutigung in einem, und er ist es auch für Mitarbeitende, die keiner christlichen Kirche angehören oder aus einem anderen Bekenntnis als dem Christlichen leben. Kein Weg zu weit, keine Hürde zu hoch: dem vermag auch zu folgen, wer anders betet. Gott, der «dia konos» führt den, der seine Menschen sucht, und sei er noch so weit weg von ihm und noch so stark an den Rand gedrängt.
Ein Rabbi wurde von einem Schüler gefragt, weshalb die Menschen zu biblischen Zeiten Gott so oft zu Gesicht bekommen hätten und er sich heute seinen Menschen kaum mehr zeige. Der Rabbi antwortete: «Das muss daran liegen, dass sich die Menschen heute kaum mehr bücken können.»