Von Christoph Sigrist
Gott ist wie ein elastisches Band, das den Menschen aus dem Hamsterrad und dem alltäglichen Trott herauszieht. Denn Gott ist immer anders, als man denkt. Deshalb ist auch der Mensch als Ebenbild Gottes immer anders, als wir denken. Dorothee Sölle hat mich angesichts des Antijudaismus und Antisemitismus gelehrt, dass das Recht, ein anderer zu werden, ursächlich mit unserem Glauben zu tun hat.
«Ich denke, das Beste, was wir als Christen tun können, ist, so jüdisch wie nur möglich zu werden. Darin sehe ich das Anders-Werden, denn der Jude ist ja in unserer Geschichte immer wieder der Andere, der ewig Andere gewesen. Und Andersheit – ausgesondert zu sein, isoliert und abgeschoben zu werden – ist ein Name für Christus. Das Wort, das mir jetzt zu diesem ‹Das Recht, ein Anderer zu werden› einfällt, ist ein Wort der jüdischen Tradition, das ich immer mehr lieben gelernt habe, das Wort ‹Teschuwa›, die Umkehr. Die Rabbiner lehren über die Teschuwa, dass man alles Mögliche über sie sagen kann, dass es aber keinen Tag und keine Stunde gibt, an der sie unmöglich ist.» (Dorothee Sölle, u.a., Teschuwa, Zwei Gespräche, Zürich, 1989, 70–71).
«Ich will raus!» Dieser Ruf ist nicht an Advent, Weihnachten oder Neujahr gebunden. Die Sehnsucht, rauszukommen, und das Recht, anders zu werden, ist nicht an Raum und Zeit gebunden. Umkehr ist immer möglich.
Der Kirchenraum scheint mir für die Umkehr «Ich will raus!» besonders geeignet. An den Festtagen ist das Grossmünster wieder übervoll, bis zu 3500 Menschen besuchen an Wochenendtagen die Kirche, gesamthaft sind es 2023 zwischen 650 000 bis 700 000 Personen, die wie durch ein unsichtbares, elastisches Band durch das enge Portal in den leeren Raum, zu den Kerzen, vor die Fenster, zum offenen Gebetsbuch hineingezogen werden. An Samstagen sind Kollegen von mir und ich selbst präsent. Mit dem Talar stehe ich im Kirchenraum.
«Ich will raus, ich halte dies nicht mehr aus.» Unmittelbar nach dem Entscheid der Fusionierung der UBS mit der CS besuchten nicht wenige Berufstätige vom Paradeplatz der Bankenwelt den Kirchenraum. Ich sass mit dem älteren Mann in den Stühlen im Chor. Er erzählte mir von schlaflosen Nächten, Spannungen in der Familie, der Angst am Arbeitsplatz. «Wissen Sie, ich weiss nicht, warum ich hier bin. Ich glaube nicht an Gott, ich gehe nicht in die Kirche. Jetzt hat es mir den Boden unter den Füssen weggezogen. Ich will raus aus dem Hamsterrad. Plötzlich sitze ich da, ich rede mit Ihnen, einem Pfarrer!» Es übermannte ihn. Weinend erzählte er vom Druck, dem er jahrelang ausgeliefert war. Es sprudelte aus ihm heraus. Ich hörte zu, fragte vorsichtig nach. Plötzlich wurde er still. «Es tut so gut, einfach mal zu reden. Und jemand hört mich, versteht mich, sieht mich. Ich weiss nicht, warum, doch jetzt habe ich das Gefühl, etwas sei anders mit mir. Gott sei Dank.» – «Gott?» – «Ach, das sagt man doch einfach so.» Wir trafen uns später regelmässig. Zurzeit lässt er sich für einen sozialen Beruf umschulen.
Kirchenräume tragen unzählige Spuren von dem vielfältigen Ruf «Ich will raus!» in sich. Und viele Menschen verlassen den Raum anders als hinein. Was hindert Sie, bisweilen sich in den Kirchenraum ziehen zu lassen und sich überraschen zu lassen mit dem Ruf in Ihrer Seele «Ich will raus!»? Und es könnte sogar sein, dass dieses unsichtbare Band, das Sie hineinzieht, von der unsichtbaren Hand Gottes gezogen wird …