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Lukas Hasler
(c) privat

«Ich hätte meinen Bruder noch so sehr gebraucht!»

Plötzlich brach die ganze Hoffnung zusammen.
Publiziert: 12.05.2016

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Von Verena Birchler

Unser Leben wird geprägt von Menschen, die uns unterschiedlich begleiten. An manche erinnern wir uns gerne, manche würden wir am liebsten aus unserem Gedächtnis verbannen, und wieder andere werden wir unser ganzes Leben lang im Herzen haben. Wenn aber ausgerechnet jene uns zu früh verlassen, mit denen wir so gerne noch unser ganzes Leben geteilt hätten, bleibt eine nie auffüllbare Lücke zurück.

Evelyne und ihr Bruder Lukas waren Seelenverwandte. Wenn man der jungen Frau zuhört, wie sie über ihren Bruder erzählt, ahnt man etwas von der engen Beziehung zwischen den beiden. «Luki war nicht einfach mein Bruder, er war mein bester Freund. Wir hatten den gleichen Freundeskreis, waren mit den gleichen Cliquen unterwegs, wir interessierten uns wirklich füreinander.» Zwei junge Menschen, die gemeinsam lachten, die Zukunft planten, neugierig auf das Leben waren und gemeinsam auch durch Australien reisen wollten. Doch dazu sollte es nie kommen.

Lukas war 23 Jahre alt, als er gemeinsam mit einem Freund einen Urlaub machen wollte. Es sollten keine normalen Ferien sein. Nein, es sollten so richtige Männerferien werden. Eine Überlebenswoche in der norditalienischen Wildnis von Val Grande. In diesem grossen Nationalpark wollten die beiden die Natur und Abgeschiedenheit geniessen. Die beiden jungen Männer waren gut vorbereitet, sie waren fit und freuten sich auf dieses Abenteuer. Nur in der Natur, nur mit dem was die Vegetation hergab, völlig auf sich selbst gestellt.

 

Evelyne erzählt: «Eigentlich fand ich diese Idee nicht gut, ich war skeptisch. Aber anderseits war ich mir sicher, dass diese beiden gut vorbereitet waren und ich vertraute auch Gott, dass er sie wieder sicher zurück bringt.»

Die zwei Wochen gingen vorbei, daheim freuten sich alle, bis diese zwei jungen Männer wieder zurückkämen. Bestimmt würden sie vieles zu erzählen haben. Doch diese zwei Wochen gingen vorüber und sie kamen nicht zurück. Kein Anruf, kein Lebenszeichen, einfach nichts. Dabei hatte man doch fast damit gerechnet, dass sie sich sogar vor Ablauf dieser beiden Wochen wieder daheim meldeten.

Irgendwann war klar, da ist etwas passiert und aufgrund der Vermisstenanzeige begann die Polizei im Nationalpark Val Grande zu suchen. Dieses Gebiet ist mit seinen 146 km2 sehr unzugänglich und kaum bewohnt. Die Verantwortlichen wussten, dass wenige Tage zuvor heftige Gewitter in der Gegend vielerorts die Bäche zu Sturzfluten anschwemmen liessen. Einheimische erzählten, dass sie sich kaum an ähnlich starke Gewitter erinnern konnten.

Auf ihrer Suche wurden die beiden jungen Männer gefunden. Sie waren tot, lagen nahe beieinander auf einem Felsen. Ein Rettungssanitäter meinte tröstend: «Es sah aus, als hätte Gott die beiden hingebettet.»

Plötzlich brach die ganze Hoffnung zusammen
Für Evelyne brach eine Welt zusammen. Beide Männer waren Christen. Sie selber hatte Gott vertraut, dass er sie bewahrte in dieser Zeit. Sie konnte nicht glauben, dass Gott nicht eingegriffen hatte. Zwei junge Männer, beide waren in ihrem noch jungen Leben ein Vorbild für viele. Sie konnte nicht glauben, was da passiert war.

 

Lukas war für Evelyne bis zu jenem Zeitpunkt der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Sie war zutiefst enttäuscht und wollte mit diesem Gott, der ihren Bruder und seinen Freund nicht bewahrt hatte, nichts mehr zu tun haben: «Ich konnte einfach nicht glauben, dass Gott uns das angetan hat.»

Bald aber realisierte sie, dass sie trotzdem nicht ohne Gott leben wollte: «Ohne Gott macht alles keinen Sinn mehr. Bei der Beerdigung war ich wieder so weit, dass ich die Lobpreislieder ehrlich mitsingen konnte.» Evelyne hat ihren besten Freund verloren und auch heute, neun Jahre später, vermisst sie Lukas immer noch. Wenn sie heute ruhig und mit einer gewissen Distanz über diesen Verlust reden kann, bleibt trotzdem eine schmerzliche Lücke, die durch nichts zu ersetzen ist. Nach dieser Erfahrung ging es aber darum, die Erinnerungen und das eigene Leben zu gestalten.

Geholfen haben dabei ihre Tagebucheinträge. Evelyne schrieb über ihre Erinnerungen, über ihre Gefühle, über die vielen gemeinsamen Erlebnisse. Manchmal schrieb sie auch Briefe an Lukas, denn sie vermisste seine Nähe, seine Herzlichkeit.

Zu jener Zeit lebte sie noch daheim bei ihren Eltern. Doch kurz nach dem Tod von Lukas zog Evelyne für drei Monate aus. Alles erinnerte sie zu sehr an ihren Bruder. Alle trauerten unterschiedlich, und sie musste ihren eigenen Weg finden und gehen.

«Ich war immer froh, wenn ich über meinen Bruder, über meine Gefühle und meine Leere reden konnte. Es half mir, wenn Menschen mich direkt auf den Tod meines Bruders angesprochen haben. Nur manchmal, habe ich gemerkt, dass ich die Stimmung negativ beeinflusste. Kaum tauchte ich auf, war die Fröhlichkeit, das unbeschwerte Lachen weg. Denn alle wussten, dass ist doch die, deren Bruder gestorben  ist.» Evelyne raffte sich trotzdem immer wieder auf und ging unter die Leute. Doch diese wussten einfach oft nicht, wie sie mit ihr und ihrem Schmerz umgehen sollten. «Viele Freunde waren hilflos, heute verstehe ich das gut. Aber damals war ich sehr dankbar um eine Freundin, die sehr gut reagierte. Sie ermunterte mich immer wieder, dass ich ihr einfach sagen soll, wenn sie etwas für mich tun kann.»

Zu diesem Verarbeitungsprozess gehörte auch eine Reise nach Australien. Ursprünglich wollten Evelyne und Lukas diese Reise gemeinsam unternehmen. Ganz bewusst entschied sich die junge Frau, diese Reise trotzdem zu unternehmen. Allein. Und das war gut so. Denn in dieser Zeit konnte sie vieles verarbeiten, Erinnerungen einordnen und auch wieder vorwärts schauen. Ohne dass sie dabei ihren Bruder vergessen hätte.

Lukas hat für immer eine Lücke hinterlassen
Für Evelyne ist das Leben weitergegangen. Und es ist ein gutes Leben. In der Zwischenzeit ist sie verheiratet und hat einen Sohn. Doch gerade in wichtigen Lebensmomenten wie Familienfeiern, beispielsweise bei der Hochzeit oder der Geburt ihres Sohnes Nino, vermisste Evelyne ihren Bruder immer noch. «Diese Momente hätte ich gerne mit ihm geteilt. Er wäre bestimmt ein guter Onkel, ein guter Begleiter für Nino geworden. Ich stelle mir dann manchmal vor, wie er mit Nino gespielt und gelacht hätte.»

Deshalb ist ihr auch wichtig, dass ihr Sohn einmal erfährt, wer Lukas gewesen ist. «Ich bin mir zwar bewusst, dass Nino nie dasselbe fühlen und denken kann wie ich, aber ich möchte einfach, dass er weiss, dass er einen tollen Onkel gehabt hätte. Deshalb haben wir unseren Sohn auch ganz bewusst Nino-Lukas genannt.»

Wenn man mit Evelyne über ihre Erinnerungen spricht, erzählt sie über viele gute Momente. Da war die Vogelspinne, die abgehauen ist, die gemeinsamen Freunde, die Erlebnisse, wenn sie zusammen im Jugendgottesdienst Theater gespielt hatten: «Ich konnte ihn auch mitten in der Nacht anrufen, damit er mich mit dem Velo vom Bahnhof abholte, damit ich nicht alleine nach Hause laufen musste.»

Auch heute, neun Jahre später, vermisst Evelyne ihren Bruder noch immer. Die Lücke wurde nicht gefüllt, aber neue Menschen haben ihr Leben reich gemacht. Da ist Peti, ihr Mann. Ihn kannte sie schon lange und er hat ihr einmal ein wichtiges Bild vermittelt. «Du bist wie eine Vase, du bist zerbrochen in viele Scherben. Man sieht, dass diese Vase geflickt ist. Aber heute sind diese Scherben wieder zusammengefügt. Man sieht die Risse. Aber du bist wieder stark und stabil. Eine Vase, die man wieder füllen kann.»

Diese Zeit mit ihrem Bruder Lukas und die Zeit nach dessen Tod haben aus der jungen Frau eine starke Persönlichkeit gemacht. Auch ihr Glaube an Gott fühlt sich heute ganz anders an. Es ist nicht mehr dieser leichte Glaube, der vielleicht sogar ein wenig naiv war: «Vielleicht  hat meine Beziehung zu Gott sogar einen Knacks bekommen. Aber ich weiss ganz genau, ohne Gott hätte ich diese Zeit nicht überlebt.» Wenn Evelyne heute über ihre Beziehung zu Gott spricht, dann ist das nicht mehr dieser «Hochglanz-Glaube», bei dem das ganze Leben sich wie hinter einer rosaroten Brille problemlos präsentiert: «Ich bin tiefgründiger geworden, habe mehr Mitgefühl. Ich habe auch schneller Angst, wenn jemand verreist. Diese Verlustangst gehört jetzt zu mir.»

Evelyne musste auch lernen, sich selber neu zu definieren. Sie hat sich früher so stark an ihrem Bruder orientiert, dass sie eigentlich gar nicht so richtig wusste, wer sie selber war. Da sie und Lukas sozusagen immer im «Doppelpack» durchs Leben gingen, wusste sie zu wenig über sich selber. Heute schreibt sie eine neue Lebensgeschichte. Mit ihrem Mann Peti, mit ihrem Sohn Nino-Lukas, in ihrer Arbeit als Radiomoderatorin und auch in ihrer Kirchgemeinde. Sie setzt sich gerne ein für Gott. Mit ihrem Knacks, den sie nie verheimlicht: «Ich habe mich entschieden, mein Leben mit Gott zu gestalten. Denn mir war bewusst, wenn ich ihm den Rücken kehre, werde ich bitter. Wenn ich aber bei Gott bleibe, fühle ich mich trotz allem geborgen bei ihm. Meine Mutter war mir in diesem Prozess ein grosses Vorbild. Sie meinte immer, dass es das Beste ist, ganz nahe bei Jesus zu bleiben.»

Evelyne mag es, mit Jugendlichen zu arbeiten. Heute zwar weniger als früher. Trotzdem sind ihr diese Aufgaben wichtig. Und da muss sie ab und zu auch predigen. Und das ist das Beste, was ihr passieren kann. Denn wenn sie heute predigt, dann hat das, was sie sagt, Hand und Fuss. Sie beschönigt auch nichts und Zweifel haben ihren Platz. Aber auch das bewusste «Ja» zu Gott: «Ich weiss, dass meine Geschichte nicht diese abgerundete, perfekte Geschichte mit Gott ist. Aber das muss es auch nicht sein. Trotzdem bin ich überzeugt, dass ich noch viel mit Gott erleben werde. Und darauf freue ich mich.»

 

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