Von Ruedi Josuran
Eine meiner prägendsten Kindheitserinnerungen ist die, als mich mein Vater von einer hohen Mauer springen liess, direkt in seine Arme. Ich war mir sicher, dass das gut kommt. Die Gewissheit, dass ich aufgefangen werde, war grösser als meine Angst. Diese Erinnerung und das damit verbundene Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit ist immer noch da. Der innere Film läuft heute noch – sogar in Slow Motion.
Ob beim Überqueren eines Zebrastreifens, beim Einsteigen in ein Flugzeug, vor einer Operation im Spital oder in sozialen Fragen – Vertrauen ist die Basis des menschlichen Zusammenlebens. In der Theorie habe ich später gelernt: Um ein gutes Selbstwertgefühl zu entwickeln, muss das Kind Urvertrauen entwickeln. Das kleine Kind muss von seiner Mutter spüren, dass es willkommen, geliebt, sowie angenommen ist und auf die Verlässlichkeit seiner Eltern bauen kann. Dabei ist die Frühform der Liebe und des Geliebtseins wie auch spätere Erfahrungen des «In-Ordnung-Seins» in seiner reinen Form nicht an Leistungen gebunden. Die verinnerlichte Erfahrung, behütet, geborgen und geliebt zu sein, gehört somit zur Quelle des menschlichen Urvertrauens. Ein Mensch ohne Urvertrauen findet den roten Faden in seinem Leben nicht.
Urvertrauen kommt als Thema auch in zahlreichen Lebensgeschichten und Erfahrungen unserer Gäste im FENSTER ZUM SONNTAG-Talk vor. Ebenso aber auch die Urangst als Gegenstück. Dort, wo sich Menschen fremd, verlassen, heimatlos und einsam fühlen. Auch Traumata, zumeist in der Kindheit, sowie anhaltende Verlassenheit, Gewalt oder Misshandlung in jeder Form verhindern eine natürliche Vertrauensbasis.
Zu einem gesunden Selbstwertgefühl gehört auch die Aussöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte und der Wille, dafür Verantwortung zu übernehmen. Entscheidend ist auch die Versöhnung mit den Menschen, die an meiner Lebensgeschichte beteiligt waren. Oder mit Dingen, die mir nicht so gut gelungen sind, mit Enttäuschungen und Frustrationen. Da, wo ich hinter meinen Erwartungen geblieben bin. Die Annahme und Versöhnung mit meinen Schattenseiten.
Selbstbild und Gottesbild hängen viel näher zusammen, als wir denken. Gott ist ein Gott der Liebe, und er zeigt diese Liebe den Menschen, indem er seinen einzigen Sohn in die Welt sandte und uns damit beschenkt. Wenn Gott uns so sehr liebt, dass er selbst Mensch wird, dann können wir nicht unbedeutend sein; dann spüren wir in dieser Beziehung zu ihm unseren Wert und unsere Würde. Im Nachdenken über Gott, erfahren wir so etwas über die Würde und den Wert der eigenen Person. Der Glaube will uns zeigen, woher wir unseren unbedingten Wert bekommen: Wir sind von Gott bedingungslos angenommen, und er sagt zu jeder und jedem von uns: «Du bist meine geliebte Tochter», «Du bist mein geliebter Sohn!» (Markus 1,11) Diese Botschaft will in der Tiefe gespürt und wahrgenommen werden. Es ist ein langer Weg aus der Wirklichkeit eines solchen Glaubens zu leben und ihn als stärker zu erfahren als alle Selbstbeschuldigungen, Selbstbeschimpfungen und Entwertungen, die uns sonst prägen.