Von Anselm Grün
Unser Leben bietet einen immensen Reichtum, ja Überfluss: zahllose Reize, Inputs, Möglichkeiten, Chancen, Informationen. Doch damit ist auch die Angst verbunden, etwas zu verpassen. Dieses Phänomen ist eine sehr charakteristische Erscheinung für unsere Gesellschaft: Sich zu begrenzen, fällt offenbar schwer; sich festzulegen, scheint gefährlich. Anselm Grün spricht verschiedene Bereiche an, wo uns Überfluss und Masslosigkeit begegnen – und wie wir darauf reagieren können.
Die Masslosigkeit unserer Selbstbilder
Viele Menschen leiden darunter, dass sie sich selbst nicht annehmen können. Wenn ich danach frage, warum sie sich nicht annehmen können, dann wird sehr oft klar: Die Bilder, die sie von sich haben, entsprechen nicht ihrer Realität. Sie können sich nicht annehmen, weil sie illusionäre Bilder von sich selbst haben. Da gilt es, Abschied zu nehmen von diesen masslosen Selbstbildern, dass ich immer perfekt sein muss, immer erfolgreich, immer cool, immer alles im Griff haben muss. In der Psychologie spricht man davon, dass man betrauern muss, dass man nicht so perfekt ist, wie man es gerne wäre. Für viele ist der Ausdruck «betrauern» zu negativ. Aber es tut weh, sich von Illusionen verabschieden zu müssen. Daniel Hell, ein Psychiater, der sich sehr mit dem Thema der Depression beschäftigt hat, meinte einmal, die Depressionen seien oft ein Hilfeschrei der Seele gegen diese masslosen Selbstbilder. Unsere Seele rebelliert dagegen, wenn wir zu grosse Bilder von uns haben, die wir niemals ausfüllen können.
Die Heilung von der Masslosigkeit unserer Selbstbilder sieht der heilige Benedikt in seiner Regel, die er schon vor 1500 Jahren geschrieben hat, in der Demut. Demut ist für uns heute eher ein negativer Begriff. Doch das lateinische Wort «humilitas» kommt von «humus = Erde». Demut besteht also im Mut, von unseren hohen Ideen hinabzusteigen und unsere eigene Menschlichkeit und Erdhaftigkeit anzunehmen. Demut ist auch die Fähigkeit, mit beiden Füssen auf der Erde zu stehen, anstatt irgendwelche spirituellen Höhenflüge zu starten, die uns von der eigenen Wirklichkeit wegziehen.
Der Überfluss und die Fähigkeit, sich zu entscheiden
Psychologische Forschungen haben ergeben, dass sich die Menschen schwertun, wenn sie vor zu vielen Möglichkeiten stehen. Das beginnt schon beim Einkaufen. Wenn es nur drei Käsesorten im Supermarkt gäbe, würde ich mich leichter mit meiner Entscheidung tun, welche Sorte ich kaufe. Doch nicht nur beim Einkaufen werden wir mit zu vielen Möglichkeiten konfrontiert, sondern auch bei der Entscheidung, welchen Beruf wir ergreifen, welches Fach wir studieren oder mit wem wir unser Leben teilen wollen.
Eine Studentin hatte im Abitur exzellente Noten. Sie konnte alles studieren: Medizin, Mathematik, Musik und Sport. Nach langem Hin und Her hat sie sich für die Medizin entschieden. Nach zwei Jahren müssen Medizinstudenten auf das Physikum hin lernen. Da hat sie dem Musikstudium nachgetrauert: «Hätte ich doch lieber Musik studiert. Dann könnte ich jetzt Klavier spielen. Das wäre viel schöner, als auf das Examen zu büffeln.» Das Nachtrauern entzieht uns alle Energie. Auch hier gilt: Die Studentin sollte betrauern, dass sie sich gegen das Musikstudium entschieden hat. Betrauern heisst: Musikstudium wäre auch schön. Aber ich verabschiede mich von dieser Möglichkeit. Nur wenn ich mich wirklich verabschiede und betrauere, dass ich nicht Musik studiere, kann ich mich mit ganzer Kraft auf das Medizinstudium einlassen.
Eine Entscheidung für etwas ist immer auch eine Entscheidung gegen etwas. Jede Entscheidung engt ein. Viele wollen sich lieber alle Türen offenhalten als sich für eine Tür entscheiden. Doch dann machen sie oft die Erfahrung, dass sie vor lauter verschlossenen Türen stehen. Ich muss mich entscheiden, durch EINE Tür zu gehen, anstatt vor lauter offenen Türen stehen zu bleiben.
Viele junge Menschen tun sich auch schwer, sich für einen Freund oder eine Freundin zu entscheiden. Sie haben Angst, dass sie dadurch ihr Leben einengen und sich durch die Bindung an einen Menschen anderen Möglichkeiten des Lebens verschliessen. Ich habe junge Frauen und Männer erlebt, die attraktiv waren und keine Probleme hatten, Freunde und Freundinnen zu finden. Doch sie konnten sich nicht entscheiden, weil sie ständig dachten, dass vielleicht noch eine attraktivere oder intelligentere Freundin oder ein noch imponierender Freund in ihr Leben treten könnte. Andere haben Angst, sich zu binden, weil der Freund oder die Freundin dann entdecken würde, dass sie gar nicht so perfekt sind, wie sie sich nach aussen geben. Letztlich ist es wieder die Masslosigkeit des eigenen Selbstbildes, von dem sie sich nicht verabschieden können. Es wäre für sie schlimm, wenn der andere erkennen würde, dass hinter dieser selbstsicheren Fassade ein unsicherer Mann oder eine Frau ohne Selbstwertgefühl steckt oder jemand mit Ängsten und neurotischen Lebensmustern.
Die Angst, etwas zu versäumen
In den Medien werden uns wunderbare Urlaubsziele vor Augen geführt. Auf Facebook oder Instagram erzählen uns Freunde, wo sie im Urlaub waren. Das erzeugt in vielen Menschen den Druck, dass sie auch unbedingt dahin müssten. Oder wenn ein Freund einen guten Film gesehen hat, muss man ihn auch sofort sehen. Es ist ja gut, wenn wir uns gegenseitig anregen, in einen guten Film zu gehen oder ein gutes Buch zu kaufen. Doch bei vielen entsteht ein Druck, sie müssten alles auch erleben, was die Bekannten erlebt haben. Sie würden etwas versäumen, wenn sie nicht auf die Malediven oder nach Thailand reisen würden. Und wenn sie es dann tun, sind sie oft enttäuscht und wollen sich die Enttäuschung nicht eingestehen. Daher müssen sie wiederum vor ihren Freunden von ihrem Urlaub schwärmen, um der Durchschnittlichkeit und Banalität ihres Lebens zu entfliehen. Sie müssen sich selbst ständig darstellen, um mit den Selbstdarstellungen der andern konkurrieren zu können.
Manche nehmen ihr Smartphone mit ins Bett, um ja keine Nachricht vom Freundeskreis zu versäumen. Doch damit versäumen sie das Eigentliche – das Leben. Vor lauter Angst, eine wichtige Nachricht oder Neuigkeit zu versäumen, werden sie unfähig, sich auf das Leben und auf den jetzigen Augenblick einzulassen. Mit ihrer Angst, Nachrichten oder Erlebnisse zu versäumen, versäumen sie das Leben.
Die Kunst zu verzichten
Verzichten hat für viele Menschen einen negativen Klang. Doch schon Sigmund Freud meint, wer nicht verzichten könne, der würde nie ein starkes Ich entwickeln. Verzichten
gehört wesentlich zum Menschen. Psychologen sagen uns: Gierige Menschen sind unfähig, zu geniessen. Geniessen kann nur der, der verzichten kann. Wenn ich zu viele Torten esse, aus Angst, ich könnte eine gute Sorte verpassen, dann kann ich das Essen nicht mehr geniessen. Hildegard von Bingen sagt einmal, Disziplin sei die Kunst, sich immer freuen zu können. Wenn ich zu viel esse, kann ich mich nicht mehr freuen. Da ärgere ich mich dann eher darüber, dass ich nicht aufhören konnte.
Was wir im Deutschen mit dem Wort «Verzicht» beschreiben, nennt die christliche Tradition Askese. Askese kommt aus dem Griechischen und meint: Übung, Training. Verzichten bedeutet eigentlich: Training in die innere Freiheit. Wenn ich den Verzicht so sehe, dann spornt er mich an, mich innerlich frei zu machen von dem Druck, alle Bedürfnisse erfüllen zu müssen. Wer jedes Bedürfnis sofort erfüllen muss, der ist unfrei, er wird zum Sklaven seiner eigenen Bedürfnisse.
Die Weisen haben zu allen Zeiten das einfache Leben gepriesen. Aber ich kann das einfache Leben nur dann geniessen, wenn ich mich verabschiede von dem Druck, alles haben zu müssen, und von der Angst, etwas versäumen zu können. Der Dichter Jean Paul hat die Erfahrung gemacht, dass wenig genügt, um sich glücklich zu fühlen: «Man kann die seligsten Tage haben, ohne etwas anderes dazu zu gebrauchen als blauen Himmel und grüne Frühlingserde.» Wer den blauen Himmel und die grüne Frühlingserde geniessen kann, der ist wirklich glücklich. Wer immer noch mehr haben oder ständig aussergewöhnliche Erlebnisse haben muss, der wird vor lauter Gier nicht bei dem stehen bleiben, was er gerade tut oder was er gerade erlebt. So wird das Leben an ihm vorbeigehen.
Wer verzichten kann, der ist nicht arm oder ärmlich. Er erlebt eine andere Weise von Reichtum, den Reichtum seiner Seele. Der chinesische Weise Laotse hat das so ausgedrückt: «Wenn du erkennst, dass es dir an nichts fehlt, gehört dir die ganze Welt.» Wenn ich genug habe an dem, was mir Gott geschenkt hat, an meinem Leib und meiner Seele, an den Menschen, mit denen ich lebe, und an den Dingen, die ich besitze, dann gehört mir die ganze Welt. Ich bin einverstanden mit der Welt. Und so bin ich auch einverstanden mit mir, mit meinem Leben.
Für die griechische Philosophie war diese Erfahrung des Einsseins das Ziel reifer Menschwerdung. Viele Menschen leiden heute unter Einsamkeit und Vereinsamung. Peter Schellenbaum meint einmal, die Kunst der Menschwerdung bestünde darin, das Alleinsein in ein All-Eins-Sein zu verwandeln. Viele Menschen suchen heute in den sozialen Medien ständig den Kontakt mit anderen Menschen, um ihrer Einsamkeit aus dem Weg zu gehen. Doch die vielen Kontakte können uns die Einsamkeit nicht nehmen. Wenn wir nicht in Kontakt sind mit andern, fühlen wir uns einsam. Wenn ich aber in der Stille in den Grund meiner Seele eintauche und dort spüre, wie ich eins bin mit Gott, eins mit der Schöpfung, eins mit allen Menschen, dann fühle ich mich verbunden mit allen Menschen. Die vielen Kontakte, die heute die Menschen in den sozialen Medien eingehen, wollen letztlich Zugehörigkeit und Verbundenheit. Doch wahre Verbundenheit entsteht nicht durch die vielen Kontakte, sondern durch das Mitfühlen. Wenn ich mich in die Menschen hineinfühle, dann entsteht wirkliche Verbundenheit. Das meint Jesus, wenn er uns auffordert: «Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist.» (Lukas 6,36) Das griechische Wort «oiktirmon» meint: mitfühlen. Gott fühlt mit uns. Und wir werden Gott ähnlich, wenn wir mitfühlen mit allen Menschen. Das verbindet uns und schenkt uns inneren Frieden und Dankbarkeit.