Von Heidi Pauli
Bis zu zwanzig Prozent der Bevölkerung sind hochsensibel. Ihr Nervensystem reagiert verstärkt auf innere und äussere Reize. So werden Einkaufszentren mit flackernden Neonröhren und musikalischer Dauerberieselung zur Qual. Deshalb meidet Claudia Ehrat diese Orte: «Der grösste Stressfaktor ist, wenn ich einer Situation nicht entrinnen kann.»
Täglich stimulieren Tausende von Eindrücken unsere Nervenzellen. Claudia Ehrat, dreifache Mutter und Ehefrau von Marco Ehrat, kann davon ein Lied singen. Ihr emotionaler Tank ist viel schneller gefüllt als dies bei normal sensiblen Menschen der Fall ist. Dementsprechend braucht sie viel Planung und Gespür, um ihren Familien- und Berufsalltag zu organisieren. «Zu meinem eigenen Schutz muss ich weit vorausdenken: Was erwartet mich? Wie gehe ich proaktiv damit um?»
Schon in der Phase des Kennenlernens war Claudia Ehrat für ihren damaligen Freund nicht fassbar. Waren sie in einem Restaurant, konnte es durchaus passieren, dass sie ihr Glas bereits ausgetrunken hatte, bevor er den ersten Schluck nahm. Dies, weil es Claudia Ehrat in ihrer Umgebung mit vielen unbekannten Reizen und Stimmen nicht behagte und es sie in die ruhige Natur zog. Später als zweifache Mutter fühlte sie sich oftmals überfordert. Ihr zweites Kind heulte oft und war im Kindergarten und der Schule schneller überreizt. Auf der Suche nach Antworten wurde sie von einer Kollegin auf das Phänomen «Hochsensibilität» aufmerksam gemacht: «Ich habe nur noch geheult. Plötzlich wurde mir klar, warum gewisse Situationen bei uns so kompliziert sind.» Diese Diagnose war für das Ehepaar wie ein Befreiungsschlag. Inzwischen weiss Claudia Ehrat wie ihr «Fässli weniger schnell überschwappt». Sie findet allein und zusammen mit ihrem Mann Marco und den Kindern Ruhe in der Natur: «Das Adrenalin muss dann einfach raus – entweder beim Rennen oder wenn ich mir einfach eine halbe Stunde lang eine Entspannungs-CD anhöre. Auch der Glaube spielt für sie eine enorme Rolle. Gottes Bestätigung an jeden Menschen «Du bist okay» ist für sie sehr wichtig.
Als hochsensible Frau spürt Claudia Ehrat auch Stimmungen von Menschen sehr gut. «Stimmungen und Dinge, die ich bemerke, fallen anderen erst viel später auf. Das auszuhalten ist nicht ganz einfach.» Sie musste erst lernen, Herausforderungen und Chancen der Hochsensibilität zu erkennen und zu nutzen. Ein hartes Stück Arbeit – auch für ihren Mann Marco, der sich als Normalsensibler täglich in die reiche Wahrnehmungswelt seiner Frau hineinversetzt.
Von einer zur andern Sekunde ist der emotionale Tank am Überlaufen (PDF)