Von Michelle Boss
Als Kind habe ich es geliebt, auf schmalen Mäuerchen zu balancieren, auf Spielplatz-Balanciergeräten zu turnen oder mit Pedalos zu fahren (den Holzspielgeräten, nicht den Booten). Und auch heute noch sind mir in Fitnesscentern Geräte wie Balanceboards oder Balancierkreisel mit Abstand die liebsten Trainingsgeräte.
Meine Erfahrung: Balance-Halten funktioniert auf zwei Arten. Ungeübte verraten sich durch starkes «Pendeln». Sie drohen, das Gleichgewicht zu verlieren und nach links abzukippen, worauf sie Gegensteuer geben – und daraufhin drohen, rechts abzukippen. Also geben sie erneut Gegensteuer. Und so geht das weiter hin und her, bis die Balance komplett verloren geht.
Je besser die Balance, desto kleiner werden diese Pendelbewegungen. Balancier-Profis stabilisieren sich aus der Körpermitte heraus und schaffen es so von Beginn weg, keine grossen Bewegungen zu machen. Sie haben dadurch wenig auszugleichen. So wirkt das Balancieren recht mühelos, erfordert aber einiges an Kraft und Körperbeherrschung.
Die goldene Mitte
Die goldene Mitte finden – das klingt auch aufs Leben übertragen nach einer hilfreichen Strategie. Gar nicht allzu stark nach links oder rechts ausscheren, nicht in Extremen leben. In Bezug auf die Work-Life-Balance würde das dann heissen, das richtige Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit zu finden und dieser Linie durchgehend treu zu bleiben. Dieses Prinzip liesse sich auf viele Lebensbereiche mit sich widersprechenden Anforderungen übertragen. Nur bin ich mir nicht sicher, ob das für mich nach einer erstrebenswerten Lebensweise klingt.
Sauberes Balancieren erfordert eine permanente Konzentration und Anspannung – wird ein solches Leben nicht letztlich anstrengend und bemüht? Wenn ich immer schön balanciert bleibe, verhindert das zwar, dass ich abstürze. Aber möglicherweise bringe ich mich auch um Höhenflüge. Die Gefahr besteht, dass ich mich aus Angst vor einem Balanceverlust um wertvolle Erlebnisse und Erfahrungen bringe.
So kommt es vor, dass mich beider Arbeit ein Projekt voll in Beschlag nimmt und dass in dieser Zeit meine Arbeit vergleichsweise (zu) viel Raum einnimmt. In anderen Lebensphasen wiederum liegt mein Augenmerk viel stärker auf meinem Privatleben. Solang beides nur Phasen sind, ist das kein Problem – dauert einer der beiden Zustände zu lange an, kann es unangenehme Konsequenzen haben. Vielleicht kippe ich eine Zeit lang stark in Richtung Arbeit, bin danach erschöpft und benötige erst mal ein Kippen in die Gegenrichtung, bevor ich mich einmitten kann.
Alles hat seine Zeit
In der Bibel steht: «Alles hat seine Zeit: Niederreissen hat seine Zeit wie auch das Aufbauen. Klagen hat seine Zeit wie auch das Tanzen. Umarmen hat seine Zeit wie auch das Loslassen. Zerreissen hat seine Zeit wie auch das Flicken.» (Auszüge aus Prediger 3, 1-7)
Das umschreibt eine Art des Balancierens, die mir für mein Leben vorschwebt. Eine Art pendelnde Bewegung – mal pendle ich eher nach links, mal eher nach rechts. Wichtig ist dabei nur, nicht auf einer Seite steckenzubleiben, sondern mich immer wieder auf die Mitte hin zuzubewegen.