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Zwei Kinder spazieren Hand in Hand. Eines hat eine israelische, ein anderes eine palästinensische Flagge auf dem Rücken
Israelisch-palästinensisches Miteinander | (c) Dhanuja Vidumina/dreamstime

Nächstenliebe im Schatten des Hasses

Herausforderungen und Hoffung im israelisch-palästinensischen Konflikt
Publiziert: 18.09.2024

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Von Assaf Zeevi

Die unvorstellbare Gewalt des 7. Oktobers 2023 liess die Spannungen zwischen Israelis und Palästinensern erneut eskalieren. Inmitten des Konflikts gibt es jedoch leuchtende Beispiele für Mitmenschlichkeit: die Geschichten von Menschen in der Region, die trotz persönlicher Verluste daran festhalten, Nächstenliebe zu leben. Doch wie kann man bei der anhaltenden Gewalt weiter Nächstenliebe praktizieren, geschweige denn empfinden? Wie lange kann Nächstenliebe angesichts des tief verwurzelten Hasses überleben? Ein persönlicher Bericht von Assaf Zeevi, der in Israel geboren und aufgewachsen ist und sich oft im Nahen Osten aufhält.

Die Initiative «Auf dem Weg zur Besserung»1 ist in meinen Augen zum Sinnbild der Nächstenliebe im israelisch-palästinensischen Konflikt geworden. Da das palästinensische Gesundheitswesen oft nicht das erforderliche Niveau bietet und die israelischen Kliniken höchste Standards haben, wollen viele Palästinenser in Israel behandelt werden. Es geht meistens um lebensrettende Behandlungen. Obwohl die Strecken oft kurz sind, sind die Wege lang. Im Normalfall dürfen Palästinenser das israelische Kernland nämlich nur zu Fuss betreten.

Eines Tages bat der Palästinenser Mohammad Kabaha den Israeli Yuval Roth um Hilfe. Mohammads krebskranker Bruder sollte in die Klinik nach Haifa gefahren werden. Beide waren vom Konflikt betroffen. Mohammad verlor ein Familienmitglied und Yuvals Bruder wurde von Palästinensern entführt und ermordet. Yuval sagte zu. Aus seiner Privatinitiative wuchs schnell eine inzwischen bekannte Stiftung mit 1300 Freiwilligen, die ihr Auto und ihre Zeit palästinensischen Kranken und ihren Begleitern zur Verfügung stellen. Aus Nächstenliebe und der Überzeugung, so Frieden zu schaffen, zumindest für eine Stunde im Auto.

Vivian Silver war eine von ihnen. Sie wohnte im Kibbuz Beeri, keine fünf Kilometer vom Gazastreifen entfernt, und fuhr Palästinenser aus Gaza in israelische Kliniken und zurück. Sie war auch eine der Mitbegründerinnen der Friedensbewegung «Frauen machen Frieden»2. Am 04. 10. 2023 nahm sie an einer Friedenskundgebung teil. Drei Tage später, am 07. 10. 2023, drangen Terroristen aus Gaza in ihr Haus und ermordeten sie. Der Tod der 74-Jährigen war so gewaltsam, dass ihre Überreste erst fünf Wochen später identifiziert werden konnten.

 

Kein einfaches Dilemma
Viele Freiwillige von «Auf dem Weg zur Besserung» lebten in der Nähe von Gaza. Sie sahen das Problem vor der Haustür, lebten Jahrzehnte unter Raketenbeschuss, glaubten an ein friedliches Leben in guter Nachbarschaft und wollten selbst einen Beitrag dazu leisten. Gerade deswegen ist ihr Anteil unter den Opfern des Massakers vom 07. 10. auffällig hoch. Fünf weitere Freiwillige der Organisation wurden an dem Tag ermordet, drei andere nach Gaza entführt. Soll die Freiwillige Yocheved Lifshitz, 84 Jahre, die nach 50 Tagen in den Tunneln von Gaza zurückkehrte, weiterhin palästinensische Kranke fahren? Ihr Mann war ebenfalls Freiwilliger, hat sich schon vor Jahrzehnten für die muslimischarabischen Beduinen in Israel politisch eingesetzt und ist immer noch in Gaza entführt. Und sie weiss nicht, was sie lieber hoffen soll, dass er lebt oder dass er tot ist.

Die Gewalt kam bei Weitem nicht nur von Terroristen. Wir haben alle die Videos aus Gaza gesehen. Palästinenser strömten in Massen zu israelischen Geiseln auf Gazas Strassen, schlugen und bespuckten sie mit sichtbarer Freude, wenn sie noch lebten oder nicht mehr. Sollte die Stiftung im Namen der Nächstenliebe einfach weiterarbeiten? Kein einfaches Dilemma. Die Stiftung hat sich dazu entschieden, den Betrieb schon am 08. 10. 2023 wiederaufzunehmen. Einige ihrer Freiwilligen brauchten eine Pause, es kamen aber auch neue Freiwillige dazu, die gerade in so schwierigen Zeiten den Drang hatten, etwas zu unternehmen und Gutes zu tun.

 

Herausforderung Nächstenliebe
Als wäre die unmenschliche Gewalt am Tag des Massakers nicht genug, wird sie in Umfragen auf der globalen muslimischen Strasse auch heute noch für gut befunden. Manche Stimmen verherrlichen sie, andere leugnen sie, die meisten verstehen sie als legitim und nur Ausnahmen verurteilen sie. Will man Menschen helfen, die zum 07. 10. vielleicht Freude und Stolz in ihren Herzen empfinden? Wie kann man dann noch Nächstenliebe praktizieren, geschweige denn empfinden?

Auch Nächstenliebe hat offensichtlich ihre Grenzen. Krieg und Terror bringen einen an diese. Allgemein würde ich behaupten: Israelis, die Liebe für ihre Nächsten, ja für ihre Feinde in Gaza empfinden können, sind herausragende Beispiele. Ansonsten ist israelische Nächstenliebe für Gaza nach dem 07. 10. zu viel verlangt. Selbst israelisches Mitleid für Gaza könnte zu viel verlangt sein. Und dennoch zeigen Umfragen in Israel: Die meisten Israelis empfinden Mitleid mit der Bevölkerung von Gaza. Für mich ist es ein beruhigender Beweis für das Erhalten der Menschlichkeit – etwas, an dem man besonders im Krieg aufpassen muss.

Diese Herausforderung spüre ich auch bei mir selbst und nicht nur wenn ich in Israel bin. Vor dem 07. 10. habe ich das mögliche Verbot muslimischer Kopftücher im öffentlichen Raum in Frankreich kritisch gesehen. Heute muss ich an meiner Toleranz arbeiten, wenn ich verschleierte Muslimas auf der Strasse sehe, weil mir sofort die Frage in den Kopf springt, wie sie zum Massaker stehen. Ob auch sie stolz auf ihren Sohn wären, wenn er ihnen erzählt hätte, wie er gerade Jüdinnen abgeschlachtet hätte – was am 07. 10. mehrfach der Fall war. Gleich sage ich mir selbst, ich dürfte nicht alle über einen Kamm scheren und dass äusserliche Merkmale muslimischer Frömmigkeit die Person nicht automatisch zum Gewaltverherrlicher und Judenhasser machen.

 

Wer ist der Nächste?
Und dann kommt die berühmte Grundsatzfrage, wer der Nächste sei. Bekanntlich ist jeder manchmal unser Nächster, auch der Nachbar nebenan, selbst in verhältnismässig homogenen Ländern wie der Schweiz und Deutschland, selbst in einem Dorf, in dem viele miteinander verwandt sind. In einer zerklüfteten Gesellschaft wie der israelischen, kann der Nachbar nebenan oder der Nachbarort schnell einer anderen Gruppierung angehören, die im guten Fall mit deiner eigenen Gruppierung konkurriert, ihr im schlechten Fall schon feindlich gesinnt ist. Sie haben alle sehr unterschiedliche Visionen für den Staat Israel, die einander nicht vertragen. Vor dem 07. 10. ging jede fünfte Israelin und jeder fünfte Israeli auf eine Demo gegen die damals vorgesehene Justizreform. Eine kleinere, aber ebenfalls recht grosse Anzahl Israelis ging auf eine Demo für dieselbe Reform.

Für manche wurden die gesellschaftlichen Risse so tief, dass sie als unüberwindbare Klüfte erschienen. Seit dem Kampf um die Justizreform wurde der Begriff «Abwanderung» um bis zu zweieinhalbfach häufiger im israelischen Netz erwähnt. Das Gefühl der Schicksalsgemeinschaft im israelischen Boot war auf den verhältnismässig ruhigen Wassern der letzten Jahrzehnte fast verschwunden. Aus Brüdern wurden nahezu Feinde, in Extremfällen mit einer gewissen Gewaltbereitschaft. Manche fürchteten einen Bürgerkrieg, wenn sich die Verfeindung weiterhin zuspitzt. Und diese Verfeindung war innerhalb der jüdisch-zionistischen Bevölkerung. Wo stehen die arabischen 21 % und die jüdisch-orthodoxen 14 % der israelischen Bevölkerung, die eher unfreiwillig im israelischen Boot sassen und sich wenig mit dem Staat identifizierten?

Man kann kaum annehmen, dass der 07. 10. dieser inneren Verfeindung ein Ende setzte. Vielmehr schickte die Bedrohung von aussen den Geist der inneren Verfeindung in eine Flasche. Aber selbst das war wie ein Zauber. Israelische Reservisten schleppen ihre verletzten Kameraden auf der Trage, auch wenn sie vor einem Jahr gegeneinander demonstriert haben, säkulare, religiöse, rechte, linke, jüdische, arabische und andere Israelis. Vor dem Krieg waren sie die Nächsten voneinander, jetzt riskieren sie ihr Leben füreinander und für die Sicherheit aller. Auch das ist Nächstenliebe.

Noch Wochen nach dem 07. 10. waren die Freiwilligen der orthodoxen Organisation ZAKA mit dem Einsammeln, Identifizieren und Begraben von Leichen und Körperteilen beschäftigt. Sie waren es, die mit den schwersten Bildern konfrontiert wurden und nicht ruhten, bis sie die letzten Blutspuren weggewaschen haben. Ihre Hingebung für die Würde der Opfer, ganz egal wer diese waren, trotz des hohen psychischen Preises, ist eine Verkörperung von Nächstenliebe.

 

Vorbildliche Beispiele von Nächstenliebe
Am 07.10. selbst konnte man heldenhafte Beispiele von Nächstenliebe arabisch-muslimischer Mitbürger sehen, die viele, darunter auch mich, zu Tränen gerührt haben. Der freiwillige Rettungssanitäter Dschamal Waraki fuhr immer wieder unter Beschuss in die Kampfzone und evakuierte rund 100 Israelis, viele von ihnen verletzt. Für Jusef Alziadna war der Raketenhagel kein Grund, die jungen Jüdinnen und Juden im Stich zu lassen, die er am Vorabend mit seinem Minibus zum Festivalgelände brachte. Die vielen Leichen zwischen verkohlten Autos am Strassenrand liessen ihn die Ausmasse des Massakers erahnen, woraufhin er sein Fahrzeug mit 30 Personen vollstopfte. Unterwegs zeigte er etlichen Pkws den Weg. Der Beduine Jasser Alkarnawi leitete den Speisesaal vom Kibbuz Beeri. Zusammen mit seinem Bruder und zwei Cousins stoppten sie jedes Auto auf dem Weg zum Kibbuz, während die Terroristen sie jeden Moment hätten entdecken können.

Nicht nur auf dem Schlachtfeld wurde Nächstenliebe sichtbar. Der Krieg, der am 07. 10. ausbrach, erweckte bei vielen Tatendrang. Nächstenliebe wurde in der Zivilgesellschaft zum gelebten Alltag. Binnen kürzester Zeit wurden unzählige Hilfsinitiativen gestartet. Das Hilfsgüterzentrum für Familien in Not in der Stadt Rahat trägt zwei Botschaften. Die eine ist das Spendenengagement, wie jedes Zentrum dieser Art. Die andere ist das Festhalten am friedlichen Zusammenleben von Juden und Arabern, denn Rahat ist eine muslimisch-arabische Beduinenstadt in Israel. Deswegen heisst es das jüdischarabische Zentrum. Die zweite Botschaft scheint vielen wichtig zu sein, weshalb das Zentrum mit gespendeten Gütern überflutet wurde und mehr Anrufe von Spendern als von Hilfsbedürftigen bekam.

Warum sind solche vorbildlichen Beispiele von Nächstenliebe zwischen Arabern und Juden an einem Ort möglich und im wenige Kilometer entfernten Gaza unvorstellbar? Es gibt natürlich Unterschiede in der politischen Zugehörigkeit und in der Lebensqualität. Aber der Hauptunterschied liegt für meine Begriffe im Gegenteil der Nächstenliebe: im Hass. Solange die palästinensische Gesellschaft zum Hass erzieht, bleibt kaum Platz für Nächstenliebe. Und langfristig kann Hass nur mit Liebe bekämpft werden.

Zur Person
Assaf Zeevi ist gebürtiger Israeli, Buchautor, Referent, Podcaster und Reiseleiter beim Schweizer Reiseveranstalter Kultour. Mehr auf www.assafzeevi.com
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© ERF Medien
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