Von David Grebasch
Die Frage nach Gerechtigkeit ist eine der grundlegenden Fragen der Menschheit, präsent in allen Kulturen und Zeiten. Sie ist eng mit der «Theodizee-Frage» verbunden, die sich mit Gottes Gerechtigkeit angesichts des Leids in der Welt auseinandersetzt. Doch warum empfinden wir etwas als gerecht oder ungerecht? Und was versteht die Bibel unter Gerechtigkeit?
Das europäische Modell der Gerechtigkeit, personifiziert durch Justitia, prägt unser Denken und Empfinden seit 2000 Jahren. Justitia, die Frau mit der Waage, Augenbinde und dem Schwert, symbolisiert objektive, unparteiische und strenge Gerechtigkeit. Die Waage misst und beurteilt neutral, die Augenbinde steht für Unparteilichkeit und das Schwert für die strafende Macht. Dieses Modell ist leistungs- und schuldorientiert: Fehler führen zur Schuld, Schuld vor Gericht zu Strafe und Strafe zur Sühnung. Das ist die Gerechtigkeitsformel von Justitia und ist tief in unserer Kultur und unserem Gerechtigkeitsempfinden verankert.
Sich freuen und jubeln?
Es gibt bei diesem Gerechtigkeitsdenken aber einige ungelöste Fragen: Justitia kann keine Gefühle haben und keine soziale Gerechtigkeit herstellen. Kinderarbeit war lange legal und Armut ist es immer noch. Diese strukturellen Ungerechtigkeiten sieht Justitia nicht. Dieses Verständnis von Gerechtigkeit übertragen wir oft auf Gott, obwohl die Bibel Gerechtigkeit anders darstellt. An vielen Stellen der Bibel lesen wir, dass Gott ein gerechter Richter ist. In Psalm 67,5 beispielsweise lesen wir: «Alle Menschen sollen sich freuen und jubeln, denn Gott ist ein gerechter Richter, er regiert die ganze Welt.»
Wer freut sich denn vor Gott als Richter, wenn Gott gemäss der Gerechtigkeitsformel von Justitia richtet? Jeder von uns ist auf irgendeine Art und Weise schuldig und wer schon mal vor einem irdischen Gericht gewesen ist, weiss, wie unangenehm sich das anfühlt: neutral, sachlich, objektiv, unparteiisch, ohne Barmherzigkeit und Gefühle.
Mit Herz und Krone
Das hebräische Wort für Gerechtigkeit ist «zedaka». In der Bibel wird «zedaka» fast immer mit Barmherzigkeit, Güte, Gnade und Treue parallelisiert. Gerechtigkeit in der Bibel ist vor allem positiv und fürsorglich. Es geht um die Wiedereingliederung und das Füreinander-Dasein.
Gottes Gerechtigkeit ist beziehungsorientiert und nicht auf Regeln und Gesetze beschränkt. Sie stellt sicher, dass Menschen in die Gemeinschaft integriert sind und an gesellschaftlichem Leben teilhaben. Gottes Gerechtigkeit ist eine Form der Liebe, die Menschen Wert und Würde gibt. Im Vergleich zu Justitia tritt Gott in Bezug zur Gerechtigkeit nicht mit Waage und Schwert auf, sondern mit Herz (Barmherzigkeit) und Krone (Rettung, Wiederherstellung).
Dazu zwei Beispiele:
Gottes Gerechtigkeit ist nicht gesetzlich, sondern liebevoll und beziehungsorientiert. Psalm 67,5 lädt uns ein, vor Freude zu jubeln, weil Gott ein gerechter Richter ist. Diese göttliche Gerechtigkeit sollen auch wir in der Welt sichtbar machen.