Von Regula Sulser
Als Kind wuchs Regula Sulser mit der Botschaft «Du bist nichts – du kannst nichts» auf. Diese negative Prägung wirkte sich auch auf ihren Glauben aus. Dieser war geprägt von Leistung und Aufopferung. Heute ist Regula Sulser erfolgreiche Unternehmerin und unterstützt mit ihrem Mahlzeitendienst vor allem Senioren und beeinträchtigte Menschen. Dabei liefert sie den Menschen weit mehr als nur Essen: Ein offenes Ohr, Zuspruch und Hoffnung gehören zum Lieferdienst dazu. Ihr Weg zu dieser gelebten Nächstenliebe setzte aber zuerst Selbstliebe und Selbstannahme voraus.
Als ich mich mit 14 Jahren zu Jesus bekehrte, war meine christliche Prägung, dass ich mich selber verleugnen und nur für meinen Nächsten da sein soll. Konkret hiess das, dass ich meine Gedanken, Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte ignorierte und unterdrückte. In der Meinung, dass sie egoistisch und nicht von Gott gewollt seien. Man sollte für seinen Nächsten da sein. Je aufopfernder, je besser. Dieser Lebensstil war ungeprüft viele Jahre meine Überzeugung. Meine ersten Jahre als Jesusnachfolgerin glaubte ich, ich müsse möglichst viel arbeiten für Gott. Ich war getrieben, bis ich nicht mehr konnte und wollte. Ich selber kam zu kurz und ich dachte, das sei Gottes Wille. Selbstliebe habe ich mir nicht zugestanden. Doch irgendwann betrachtete ich in Jakobus 2,8 nicht mehr nur den ersten Teil «Liebe deinen Nächsten». Zum ersten Mal beachtete ich auch den zweiten Teil «wie dich selbst».
Voraussetzung Selbstliebe
Das brachte mich zum Nachdenken: Mich selber zu lieben, war also laut der Bibel sogar eine Voraussetzung, andere Menschen zu lieben. Mich selber zu lieben, überforderte mich, weil ich es nicht kannte. Und weil ich es bis dato als nichtchristlich und egoistisch sah. Doch meine neue Sicht veränderte mein Leben grundlegend: Ich DARF meine Gefühle beachten! Ich DARF mich abgrenzen, wenn mein Nächster mich zu sehr einnimmt. Ich brauchte Mut, auf mein Herz zu hören und zu lernen, mich selber wahrzunehmen. Es bedeutete auch, dass ich schwach und müde sein DARF. Mich selber zu lieben, bedeutet, meine Gefühle und Emotionen zuzulassen und von Gott heilen zu lassen. Eigentlich bedeutet es, nichts leisten zu müssen, sondern zuerst zu SEIN. Als Konsequenz veränderte sich mein Lebensmuster. Weil ich mich nicht mehr anstrengen musste, etwas zu sein, das ich gar nicht konnte und wollte, wurde ich echt. Und stark. Den Fokus (auch) auf meine Bedürfnisse zu schwenken, hiess, Nein zu sagen zu Aufgaben, die nicht in meiner Verantwortung vor Gott waren. Ich übte mich im Neinsagen und kam in meinem neuen Lebensstil Gott näher. Jetzt lernte ich diesen Gott der Liebe erst kennen. In meinem Leben konnte innere Heilung geschehen. Bei meiner Bekehrung als Teenager kannte ich keine «erste Liebe», von der viele reden. Denn ich hatte mich aus Angst vor Gott bekehrt. Mein Weg von der Angst zur Liebe Gottes dauerte manches Jahrzehnt und ist auch jetzt nicht abgeschlossen.
Geliebt leben
Dass ich Gottes Liebe nicht wirklich kenne, wurde mir heftig bewusst, als ich die Diagnose «Epilepsie» bekam an Weihnachten 2009. Diese kam aus heiterem Himmel und mein erster Gedanke war: Gott liebt mich nicht mehr. Gott hat mich verlassen. Ich genüge Gott nicht. Ich habe ihn enttäuscht. Das war für mich noch schlimmer als die Diagnose! Diese Situation mit der Krankheit deckte das Bild auf, das ich von Gott hatte: Wenn mein Leben geradeaus verläuft, also ohne Probleme, dann liebt mich Gott. Wenn etwas Schlimmes passiert, dann straft er mich. Ich erschrak über mich selber und begann, Gott um ein neues Bild von ihm zu bitten. Theoretisch wusste ich, dass mein Bild nicht stimmte. Und ich wollte nicht in dieser eingeschüchterten Haltung bleiben. Sie wurde mir erst jetzt durch die Krankheit bewusst und bewirkte, dass ich mich mit Gottes Liebe für mich befasste. «Geliebt leben» ist zu meinem Lebensbeschrieb geworden. Ich frage mich oft mitten im Alltag: Lebe ich jetzt geliebt oder bemühe ich mich um Gottes Liebe durch mein Tun, mein Reden, mein Verhalten? Und spätestens nach Feierabend bespreche ich mit meinem himmlischen Vater die Wurzel von meinem Verhalten. Es ist sehr entspannend, zu lernen, alle Anstrengungen, Gottes Liebe zu bekommen, abzugeben und in der nicht-verdienbaren Liebe zu leben. Dabei hilft mir die Geschichte vom «verlorenen Sohn»: Wann liebte der Vater seinen Sohn am meisten? Als dieser auf dem Hof arbeitete; als er sich das Erbe auszahlen liess und wegzog; als er bei den Schweinen hungerte oder als er zum Vater zurückkehrte? Ich glaube, dass er immer gleich geliebt war!
«Liebe» ist nicht «lieb sein»
Noch immer finde ich das Wort «Liebe» herausfordernd. Ob es nun um Selbstliebe oder um Nächstenliebe geht: Was heisst es konkret im Alltag? Eine Definition für Liebe ist «ernst nehmen». Liebe hat nichts zu tun mit «lieb sein»! Im Gegenteil: Jesus war nicht lieb mit den Menschen, denen er begegnete. Er hat sie konfrontiert mit ihren Sünden, Streitigkeiten, Gedanken, Taten. Das ist Liebe. Im nachfolgenden Vers im oben zitierten Jakobusbrief heisst es: «Wenn ihr aber die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Übertreter.» Wenn das die biblische Definition von Lieben bzw. Nichtlieben meines Nächsten ist, ist Lieben keine Gefühlssache: sondern ein Verhalten, das geprägt ist von dem, was mein Gegenüber braucht. Unabhängig von der Herkunft oder dem sozialen Stand.
Aus dieser Perspektive werde ich meinen Nächsten nicht mit «lieb sein» überschütten. Oder ein Bedürfnis befriedigen, das gar nicht vorhanden ist. Das wäre dann ein rein egoistischer Antrieb!
Heute liebe ich mich selbst ohne Schuldgefühle. Weil ich weiss, dass Gott will, dass ich mich liebe. Denn er hat mich zuerst geliebt. Die Selbstliebe wird zu einer inneren Stärke, die mich erst fähig macht, meinen Nächsten zu lieben.
Lieben ist anspruchsvoll. Und es ist keine niedrige Haltung oder Unterwerfung. In Johannes 13 ist beschrieben, wie Jesus seinen Jüngern die Füsse wäscht. Zuvor heisst es, dass Jesus genau wusste, wer er ist und wohin er geht. Er kannte seine Identität und achtete sich selbst. Das war das Fundament, seine Jünger und die Welt bis zum Letzten zu lieben. Das hat nichts mit Schwäche zu tun, sondern kommt aus innerer Stärke und Identität.
Ich bin so dankbar, nicht mehr in Angst vor Gott zu leben, sondern in seiner freimachenden Liebe!