Von Verena Birchler
Die ältere Generation kennt es bestimmt noch. Sogar Herbert Grönemeyer besingt es. Und auch in Schulen wird es noch gesungen: «Der Mond ist aufgegangen! » – das 237 Jahre alte Gedicht von Matthias Claudius. Wer dieses Gedicht einmal intus hat, bringt es nie wieder aus dem Gedächtnis. Ein Ohrwurm, der uns guttut.
Diese kleine Gute-Nacht-Predigt bringt uns in die Nähe Gottes. Wer auf youtobe.com die Interpretation von Herbert Grönemeyer schaut, ist augenblicklich angetan von Text und Melodie. Auch die Zuhörer lauschen in andächtiger Stille, lassen zu, dass da einer ein uraltes Gedicht, eine uralte Predigt zum Besten gibt.
Aus diesem Lied könnte man locker eine ganze Predigtreihe gestalten. Allein die ersten Zeilen jeder Strophe böten genügend Stoff. In der letzten Strophe heisst es: «So legt euch denn ihr Brüder, in Gottes Namen nieder; kalt ist der Abendhauch. Verschon‘ uns, Gott mit Strafen und lass‘ uns ruhig schlafen! Und uns’ren kranken Nachbarn auch!»
Dieses Lied drückt viel Gottvertrauen aus. Es ist die Sprache von jemandem, der viel mit Gott redet und über ihn nachdenkt. Diese Worte beweisen, dass hier einer mit Gott unterwegs sein möchte, und dass er sich seiner Stärken und Schwächen bewusst ist. Und es zeigt, dass jemand bewusst mit Gott in die Nacht und den nächsten Tag starten möchte. Es sind Gedanken, die zeigen, dass sich hier jemand auf Gott, auf Jesus verlassen möchte. Doch leider geht dieses Grundvertrauen immer mehr verloren. Unsere Gesellschaft hat weitgehend vergessen, wieviel Gutes wir in der Geschichte schon mit Gott erlebt haben. Man könnte es durchaus eine gesellschaftliche, geistliche Demenz nennen. Wir haben uns als Gesellschaft zwar eine gewisse religiöse Grundhaltung bewahrt. Aber die hat sich von einem reellen Leben mit Gott weit distanziert. Heute regt man sich ja schon auf, wenn man Kirchenglocken läuten hört. Gott hat seinen festen Platz verloren. Aber Gott ist das egal. Ob wir es merken oder nicht, er ist da und möchte uns immer wieder begleiten und Gutes in unser Leben bringen.
Zwischen Vertrauen und Vergessen
Wir können uns durchaus auch heute, 237 Jahre nach Matthias Claudius, täglich auf Jesus verlassen. Doch Erinnerungen an gute Erlebnisse und Vergessen liegen nahe beieinander. Diese Erfahrungen machten vor über 2000 Jahren auch Männer, die längere Zeit mit Jesus unterwegs waren. Sie waren mit Jesus unterwegs, wie an dem Abend, der im Lukas-Evangelium lebhaft beschrieben wird. Lukas 8,22-25: «Am Abend dieses Tages sagte Jesus zu seinen Jüngern: «Lasst uns über den See ans andere Ufer fahren!» Sie schickten die Menschen weg und ruderten mit dem Boot, in dem Jesus sass, auf den See hinaus. Einige andere Boote folgten ihnen. Da brach ein gewaltiger Sturm los. Hohe Wellen schlugen ins Boot, es lief voll Wasser und drohte zu sinken. Jesus aber schlief hinten im Boot auf einem Kissen. Da rüttelten ihn die Jünger wach und schrien voller Angst: «Herr, wir gehen unter! Merkst du das nicht?»
Sofort stand Jesus auf, bedrohte den Wind und rief in das Toben des Sees: «Sei still und schweig!» Da legte sich der Sturm, und es wurde ganz still. «Warum hattet ihr solche Angst?», fragte Jesus seine Jünger. «Habt ihr denn gar kein Vertrauen zu mir?» Voller Über die geistliche Demenz unserer Gesellschaft … und vergiss nicht, was er dir Gutes getan 4 | antenne | November 2016 THEMA | Entsetzen flüsterten die Jünger einander zu: «Was ist das für ein Mensch! Selbst Wind und Wellen gehorchen ihm!» Die Geschichte ist vielen bekannt. Und sicher waren die Jünger im Nachhinein froh, dass sie so nahe bei Jesus waren; ganz nach dem Motto: «Gott nahe zu sein ist mein Glück.»
Allerdings, nur weil eine Geschichte bekannt ist, heisst das noch lange nicht, dass wir diese auch verinnerlicht und begriffen haben. Deshalb fragt Jesus seine Männer: «Habt ihr denn kein Vertrauen?» Und im Lukas-Evangelium wird diese Frage noch erweitert mit den Worten: «Wo ist denn euer Glaube?»
Ich bin hier!
Man könnte sagen, dass Jesus fast ungläubig fragt: «Was, das kann doch nicht sein, dass ihr mir nicht vertraut. Wie geht das denn? Ihr glaubt nicht, dass ich euch bewahren kann? Aber ich bin doch da.» Vielleicht haben wir in unserer Gesellschaft früher tatsächlich stärker mit Gottes Wirken gerechnet. Zu Zeiten, als man sonntags noch regelmässig als Familie gemeinsam die Gottesdienste besuchte. Natürlich war das noch kein wirklicher Beweis, dass man eine Gottesbeziehung hatte. Aber immerhin war dieser Gott irgendwie noch präsent. Durch das Vergessen, durch die immer stärkere Selbstbestimmung haben wir Gott aus unserem privaten, aber auch aus dem öffentlichen Leben verdrängt.
Wenn wir uns Sorgen machen, bemühen wir eher einen Blick in die Horoskope und andere Lebenssinn- Agenturen als einen Blick in die Bibel. Für unseren Umgang mit Sorgen, mit Herausforderungen, Glücksmomenten und Schwierigkeiten gibt es Millionen Bücher aus der Ratgeberliteratur. Zu all diesen Büchern gibt es auch noch unzählige Spruchkarten mit Lebensweisheiten, die nicht wirklich helfen, wenn das Leben sich wie eine Fahrt auf der Achterbahn anfühlt. In solchen Zeiten wäre es hilfreich, wenn wir uns erinnern, dass es da einen Gott gibt, der uns nahe sein möchte. Der uns in Stürmen des Lebens helfen möchte, wie damals den Männern auf dem See. Es wäre stark, wenn wir in unserer Geschichte zurückblenden in all das, was wir mit Gott schon erlebt haben. Aber oft gelingt uns das nicht.
Wir leiden unter geistlicher Demenz
Warum müssen wir immer wieder neu buchstabieren, dass Gott da ist? Gott macht keine Ferien, bezieht keine Brückentage und Grippe bekommt er auch nicht. Er ist da und will uns im Alltag begleiten. Warum geht uns das nicht in Fleisch und Blut über? Ich denke, es gibt einen Begriff dafür: Könnte es sein, dass wir an geistlicher Demenz leiden?
Weshalb muss ich das immer wieder buchstabieren? Weshalb muss ich immer wieder in den Sorgenmodus kommen, bevor ich nachhaltig vertraue? Viele erleben das so. Der Grund ist einfach. Gott verschwindet immer wieder aus der eigenen Realität, aus dem Leben, aus unserem Denken.
Symptome, die helfen, die eigene geistliche Demenz zu erkennen
Es gibt sicher noch mehr Kennzeichen geistlicher Demenz. Jeder von uns könnte bei genauerem Nachdenken noch Erfahrungen hinzufügen. Aber bei den erwähnten Symptomen liegt es bei uns, diese aktiv zu gestalten.
Wenn wir wollen, dass Gott in unserer Gesellschaft wieder mehr Relevanz bekommt, müssen wir uns einen neuen Sprachmodus zulegen. Wenn wir klarmachen möchten, dass unsere westlichen Werte weitgehend auf den Zehn Geboten basieren, müssen wir diese verständlich leben und kommunizieren. Wenn wir möchten, dass Menschen sich zurück besinnen auf Gott, müssen wir über ihn reden. So können wir die «geistliche Demenz» auffangen und Menschen in der Schweiz wieder näher zu Gott bringen. Und auf diese Auswirkungen würde ich mich sehr freuen.
Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön:
so sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil uns’re Augen sie nicht seh’n.
Wir stolzen Menschenkinder
sind eitel arme Sünder
und wissen gar nicht viel.
Wir spinnen Luftgespinste
und suchen viele Künste
und kommen weiter von dem Ziel.
Gott lass‘ dein Heil uns schauen,
auf nichts Vergänglich’s trauen,
nicht Eitelkeit uns freu’n!
Lass‘ uns einfältig werden
und vor dir hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein!
Woll’st endlich sonder Grämen
aus dieser Welt uns nehmen
durch einen sanften Tod!
Und wenn du uns genommen,
lass‘ uns in Himmel kommen,
du unser Herr und unser Gott!
So legt euch denn ihr Brüder,
in Gottes Namen nieder;
kalt ist der Abendhauch.
Verschon‘ uns, Gott! mit Strafen
und lass‘ uns ruhig schlafen!
und uns’ren kranken Nachbarn auch!
Matthias Claudius