Von Thomas Bänziger
Wir alle kennen es: das in den Jahren 1495–1498 von Leonardo da Vinci erstellte, weltberühmte Wandgemälde «Das letzte Abendmahl», das 1943 einen Bombenangriff überlebte und heute noch in Mailand zu sehen ist. Das etwa vier auf neun Meter grosse Renaissance-Kunstwerk fasziniert nicht nur aufgrund seiner Genialität wie der perspektivischen Tiefe, sondern zieht Menschen auch aus dubiosen Gründen immer wieder in den Bann – denken wir an den vielgelesenen Roman «Das Sakrileg» von Dan Brown oder an die skandalöse Einweihung der Olympischen Spiele im letzten Jahr. Die Faszination geht nicht nur vom Bild aus, sondern vom Abendmahl an sich, in dem wir die geheimnisvolle Verbindung von Gott und Mensch feiern. Diesem Mysterium, das mit Ostern zu tun hat, wollen wir kurz nachspüren.
«Einer von euch wird mich verraten», hatte Jesus im Kreis seiner Jünger am Abend vor seiner Hinrichtung am Kreuz festgestellt (Matthäus 26,21). Da Vinci hielt in seinem Gemälde den Moment fest, als die Jünger eifrig diskutierten, wer die Person wohl sein könnte und einhellig beteuern, dass es sie sicher nicht sein werden. Der Kontext der Diskussion, der jedoch auf dem Renaissance-Bild nicht ersichtlich ist, war das jüdische Passahfest zum Gedenken an den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten unter Mose. Jesus feierte den sogenannten «Sederabend» offensichtlich einen Tag früher als die Mehrheit im Volk, da er am nächsten Tag zusammen mit den Passahlämmern starb, die das Volk für den anstehenden Abend schlachtete.
Das erste oder das letzte (Abend-)Mahl?
Nach dem Essen sangen die Jünger den «Lobgesang», wie noch heute beim jüdischen Sederabend Psalmengebetet werden (die Psalmen 113–118 und 136), und im Anschluss gingen sie an den Ölberg, wo sich mit der Verhaftung Jesu die Geschichte von Karfreitag und Ostern weiter entfaltete. Der Abend war tatsächlich das «letzte Mahl» Jesu mit seinen Jüngern vor seiner Hinrichtung. Es war auch das «letzte Passahmahl», das Jesus vor seiner Auferstehung feierte. Aber vom «letzten Abendmahl» zu sprechen ist nur hinsichtlich eines «Nachtmahles» richtig, nicht hinsichtlich unseres heute geläufigen Verständnisses des «Abendmahls». Im Prinzip müsste man eher vom «ersten Abendmahl» sprechen. Denn Jesus setzt die Zeichen von Brot und Wein im Kontext des Passahfestes neu ein bzw. verleiht ihnen eine neue Bedeutung.
Die Zeichen von Brot und Wein
Er nimmt ein Stück des ungesäuerten Brotes. In der jüdischen Tradition wird heute vor dem Essen ein Stück Mazze gesucht, das am Anfang des Abends versteckt wurde. Das Stück Brot trägt den interessanten Titel «Afikoman». Es gibt verschiedene Herleitungen vom griechischen Ursprung des Wortes. Einige versuchten, es mit der Bedeutung «Ich bin gekommen» in Verbindungzu bringen. Das zuvor verborgene Brot kommt nun hervor. Alle koscheren Mazzen weisen Löcher auf, die in Streifen angeordnet sind. Messianische Juden denken dabei an Jesus, den Messias, durch dessen Striemen wir geheilt wurden (vgl. Jesaja 53,5) und der für uns durchbohrt wurde (vgl. Sacharja 12,10). Die Verbindung mit dem Afikoman ist unsicher, aber ganz sicher nahm Jesus ein Stück ungesäuertes Brot, das an die Nacht des Auszugs aus Ägypten erinnerte.
Der Name «Ägypten» bedeutet im hebräischen Wortlaut die «Enge». Jesus befreite auch uns aus der «Enge» unserer Schuld, er führt uns ins Leben, ins verheissene Land. Jesus spricht vom «Sauerteig der Pharisäer» (Matthäus 16,6), vor dem wir uns hüten sollen. Er brachte eben gerade keine leeren religiösen Floskeln, keine «aufgeblasene» Lehre, sondern er ist das «Brot des Lebens» (Johannes 6,35). Er gibt sein Leben für uns, deshalb formuliert er die Einsetzungsworte des Brotes beim Abendmahl: «Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis.» (Lukas 22,19) Er hat sich für uns hingegeben.
Auch der Kelch, den Jesus nach dem Mahl in die Hand nimmt, hat einen Bezug zum Passahfest. Nach der jüdischen Tradition des Sederabends ist der Kelch nach dem Essen der «Kelch der Erlösung». Wir wissen nicht, ob er zur Zeit Jesu bereits diesen Namen hatte. Aber Jesus nimmt den Kelch in die Hand und erinnert uns daran, dass uns sein Blut erlöst, so wie damals die Erstgeborenen durch das an die Tür angebrachte Blut des Lammes geschützt waren. Jesus ist das wahre «Lamm Gottes, das der Welt Sündeträgt» (so sagt es Johannes der Täufer in Johannes 1,29). Er nimmt den Kelch und spricht die Einleitungsworte: «Das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden.» (Matthäus 26,28)
Der neue Bund
Jesus sprach im Moment des Abendmahls vom «neuen Bund», wenn er sagte: «Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.» (Lukas 22,20, vgl. dazu auch 1. Korinther 11,25) Das Abendmahl ist das Zeichen des neuen Bundes. Jesus bezieht sich damit auf Jeremia 31,31, wo Gott den «neuen Bund» ankündigt, den er mit seinem Volk schliessen wird. Im Vers 33 wird der neue Bund noch genauer beschrieben: «Ich will mein Gesetz (wörtlich: meine Tora) in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.»
Gott schreibt seine Tora nicht nur auf Steintafeln oder auf eine Pergamentrolle, sondern in unsere Herzen! Theologinnen und Theologen sprachen von der «Einherzung der Tora». Das ist hochinteressant: Gottes Werte kommen nun in unser Inneres. Den Buchstaben des Gesetzes konnten wir nicht erfüllen (vgl. Römer 7), aber nun befähigt uns Gott dazu, indem er in unsere Herzen kommt. Wenn wir an Jesus Christus glauben, so erfüllt er unser Inneres. Das feiern wir ja im Abendmahl, dass er in uns wohnt und wir zu ihm gehören. Die Verbindung von Gott und Mensch ist das grosse Geheimnis des Abendmahls.
Gründonnerstag und Ostern
Das Abendmahl am Gründonnerstag-Abend nimmt alles schon vorweg: Deshalb ist Jesus am Karfreitag gestorben, um diese innere Verbindung zu ermöglichen. Der Vorhang im Tempel ist zerrissen, um zu zeigen, dass der Weg zu Gott möglich ist (vgl. Lukas 23,45). Und deshalb ist Jesus am Ostersonntag-Morgen wieder auferstanden, um nicht nur zu leben, sondern um in unseren Herzen zu leben. Wenn wir Abendmahl feiern, dann feiern wir den auferstandenen Christus in uns. Immer wenn wir Abendmahl feiern, werden wir in das Geheimnis von Ostern mit hineingenommen.
Das Abendmahl hat Menschen durch alle Jahrhunderte in den Bann gezogen. Leonardo da Vinci widmete diesem einen Kunstwerk vier Jahre seines Lebens. Immer wieder sei er lange vor dem werdenden Gemälde gestanden und habe überlegt. Möge auch uns das Geheimnis des Abendmahls in den Bann ziehen, damit wir andächtig davorstehen und es unsere Herzen berührt.
Zur Person
Thomas Bänziger, Pfr. Dr. theol., ist im Leitungsteam der Stiftung Schleife, wo er mit seiner Frau Katharina für die theologisch-pastoralen Bereiche zuständig ist. Zusammen gestalten sie u. a. den BibelTalk und die Bibelwerkstatt. Sie haben vier Kinder. Thomas ist verantwortlicher Redaktor für das Prophetische Bulletin. Als Gastdozent unterrichte er Altes Testament am IGW Zürich und an der STH Basel.
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