Von Michelle Boss
Eltern waren auf dem Schulgelände nicht erwünscht am ersten Schultag meiner jüngsten Tochter. Die Pandemie hatte uns mit der ersten Welle nachhaltig geschockt und dazu geführt, dass die sonst übliche Begleitung in die erste Unterrichtsstunde gestrichen wurde. Es war nicht einmal möglich, die Kinder auf den Pausenplatz zu begleiten.
So stand ich denn mit Dutzenden weiteren Elternteilen auf dem Trottoir vor der Schule und schaute meinem Kind dabei zu, wie es unsicher und immer wieder zurückblickend die Stufen zum Pausenplatz emporstieg und schliesslich aus meinem Sichtfeld verschwand.
Ob sie wohl die richtige Klasse finden würde? Würde sie verstehen, was sie an der Garderobe zu tun hatte und wo ihre Sachen hingehörten? Kam sie sich wohl sehr allein vor? Dass es mich etwas kosten würde, sie gehen zu lassen, war mir von vorneherein klar gewesen. Auch bei ihren Geschwistern, die ich jeweils in die erste Schulstunde begleiten konnte, war es ein merkwürdiges Gefühl gewesen, sie so auf sich gestellt zu erleben und dann auch allein lassen zu müssen. Jeder grössere Entwicklungsschritt war und ist mit Loslassen meinerseits verknüpft, und aus irgendeinem Grund wird es durch die jahrelange Übung nicht leichter. Auf ein mulmiges Gefühl war ich also vorbereitet.
Worauf ich nicht vorbereitet war, war die emotionale Woge, die mich auf dem Heimweg erfasste. Mein jüngstes Kind war nun ein Schulkind. Die Phase der Vorschulkind-Mutter war definitiv und unwiederbringlich vorbei. Und zu meinem Erstaunen schmerzte es plötzlich ungemein, diese Phase meines Lebens loszulassen und mich von ihr zu verabschieden.
Mir ist dieses Erlebnis noch sehr lebhaft in Erinnerung. Wohl deswegen, weil ich Loslassen selten so bewusst als akuten Abschiedsschmerz wahrnehme. Meist ist es eher ein Prozess, der durchaus wehtut, der sich aber über längere Zeit hinzieht und dann irgendwann – oft zu meinem eigenen Erstaunen – abgeschlossen ist. Der eigentliche Akt des Loslassens ist dann lediglich noch der letzte Schritt oder der natürliche Abschluss des vorhergehenden Prozesses.
Als Mutter könnte ich aus dem Stegreif Dutzende, wenn nicht Hunderte Momente des Loslassens aufzählen. Manche fielen mir leicht, andere erforderten längere Prozesse und sehr bewusste Entscheidungen. Sehr oft half es zu wissen, dass meine Kinder nie komplett auf sich allein gestellt waren. Mit Gott hatten und haben sie stets einen Begleiter an ihrer Seite, der auch dann für sie da ist, wenn wir als Eltern dies nicht können.
Doch nicht nur meine Kinder muss ich loslassen. Sehr oft geht es um mich selbst. Um Lebensphasen, die unwiederbringlich vorbei sind. Selbstbilder, die nicht mehr adäquat sind (oder es vielleicht nie waren). Kraft, Belastbarkeit und Stressresistenz, die mit zunehmendem Alter abnehmen (ich weiss, diese Erfahrung wird mir wohl in noch viel grösserem Ausmass bevorstehen!). Und ganz besonders schwierig: tief verankerte Überzeugungen, meine Sichtweise auf das Leben und auf Gott. Auch sie muss ich zuweilen loslassen, denn auch sie verändern sich. Und das ist gut so. So wie es gut ist, dass meine Kinder grösser und selbstständiger werden und sich entwickeln. Meine persönliche Veränderung ist womöglich der schmerzhafteste, aber auch wichtigste Prozess des Loslassens überhaupt.