Von Hansjörg Kägi
Dass Gott nur zwei Tempi hat, langsam und sehr langsam, ist allgemeinhin bekannt, und ich habe zeitlebens darunter gelitten. Schon oft habe ich gedacht: «Ich bin wohl schon nervös auf die Welt gekommen.» Dabei liebe ich die Schönheit und Ruhe der Natur. Ich liebe es, in die Ruhe von Gott zu kommen. Gestern Abend ging ich Schritt für Schritt am Rand eines Dorfes im Mittelland übers Feld. Ich wusste nicht wohin, aber es war schön. Die Sonne leuchtete und hob die wunderbaren Herbstfar-ben so stark hervor, wie ich es selten gesehen habe. Ein Moment des Innehaltens und der wohltuenden Ruhe.
Der Kampf
Die letzten Monate verliefen allerdings anders. Viel Ringen um Lösungen in Sachen Covid, wo es keine Lösungen zu geben scheint, darüber sogar predigen in der Kirche, eine wirklich heikle Aufgabe. Dann eine private Angelegenheit, welche meine Frau und mich seit längerer Zeit sehr in Atem hält. In dem allem höre ich seit ein paar Wochen einen Bibelvers, welcher mich seit Langem begleitet, nur dass ich dieses Mal der Sache auf den Grund gehe und den hebräischen Urtext studiere. «Der Herr kämpft für euch, und ihr seid stille.» So kompakt hatte ich es noch nie gehört, dicht, befreiend und überfordernd zugleich. Wie soll das gehen, jetzt, in unseren Tagen, still werden mitten im Chaos, inmitten ständig neuer Herausforderungen? Im Gespräch darüber mit Freunden erkennen wir, dass es dann wirklich voranging mit dem Volk Israel, welches dieses Wort in einer Situation hörte, als es klar schien, dass nun alles scheitern würde, was Gott ihm versprochen hatte.
Das grosse «Du»
«Wo ich gehe – du! Wo ich stehe – du! Nur du, wieder du, immer du.» Diese bekannten Worte Martin Bubers, poetisch und kraftvoll – Teil eines seiner Gedichte – haben mich ebenfalls erreicht dieses Jahr. Das ist vielleicht das Verrückteste, das ich mir vorstellen kann. Wenn alles so schwierig wird, wie momentan, geht meine Seele meist zuerst auf Distanz zu Gott. Ja, ja, er ist sicher auch da, und bereits lande ich im «Er», das «Du» ist bereits den Bach runtergegangen. Buber aber sagt durch sein ganzes Poem hindurch, dass er es mit einem «Du» zu tun hat. Gott ist nie ein «Er» zu ihm. Dieses dialogische Prinzip zu leben, gerade im Sturm, fordert oft alles von mir. «Ergeht’s mir gut – du! Wenn’s weh mir tut – du! Nur du, wieder du, immer du!», fährt Buber fort. Nun, ich habe mir diese eine Seite aus dem Internet ausgedruckt, seither liegt sie zuoberst auf meinem Pult, ich bin mehr als dankbar dafür, es wird noch eine Weile so bleiben.
Glaube und Vertrauen
Wo ist denn nur mein Glaube geblieben? Und das Vertrauen in meinen Vater im Himmel – und auf Erden? Jesus fragte seine Jünger einmal genau dies: «Wo ist euer Glaube?» Nun, wenn er dies während des gemeinsamen Frühstücks gemacht hätte oder abends, nachdem alle Kranken geheilt nach Hause gegangen waren, dann hätte ich das noch verstanden. Er fragt sie das aber, nachdem sie um ein Haar umgekommen wären in einem Jahrhundertsturm. Ich weiss, dass Jesus überhaupt nicht gefühllos ist, auch nicht taktlos, auch war es keine Verlegenheitsfrage. Warum fragt er sie dies in einer solchen Situation? Fragt er uns heute eventuell dasselbe? In meinem Ringen im zu Ende gehenden und wohl auch im kommenden Jahr merke ich, dass er uns mit der Frage eine vertiefte Lösung für unsere Glaubensprobleme anbietet. Beachten wir die fürchterliche Lage, damals und zum Teil auch heute, dann möchte Jesus uns sagen: «Ich bin doch da, und ich wirke, auch wenn ich mal nicht antworte.» Jesus ist immer da, und er wirkt immer – dies ist meine Glaubensdefinition fürs Weitergehen, Schritt um Schritt, schneller geht’s eh nicht.
Zur Person
Pfr. Dr. Hansjörg Kägi war 15 Jahre im Pfarramt Dekan und baute 2003 bis 2017 mit seiner Frau zusammen einen Ort des Gebets in Zermatt auf. Seit 2018 arbeitet er als Pfarrer in der Ref. Kirchgemeinde Wattenwil. Zudem ist er Traumaseelsorger und Professor für Altes Testament und das Leben Jesu.
Serie «Gott ist …»
Wie oder wer ist Gott eigentlich? Diese Frage beschäftigt die Menschen schon lange. In der Bibel werden unterschiedliche Bilder gebraucht, um Gott zu beschreiben. In einer Serie teilen Theologinnen und Theologen aus verschiedenen Denominationen ihre Vorstellungen, wie Gott ist.