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Glaube leitet uns | (c) Guilherme Stecanell/Unsplash

«Ich glaube die Kirche»

Im Spannungsfeld von Glauben und Denken
Publiziert: 19.10.2020

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Wir denken. Und wir glauben. An was genau und wie, ist wohl bei allen Menschen unterschiedlich, selbst wenn sie auf ähnliche Glaubenskonzepte bauen. Christina Aus der Au, Philosophin und Theologin, geht der Frage «Was heisst Christ sein?» auf den Grund und führt uns in ein weites Spannungsfeld zwischen Glauben und Denken.

Als bis in die Knochen reformierte Christin hatte ich mit dem Glaubensbekenntnis lange nichts am Hut. Ich wäre zwar vielleicht nicht so weit gegangen wie meine Konfirmanden und Konfirmandinnen damals, denen ich das Apostolische Glaubensbekenntnis in Halbsätzen vorlegte und sie jedes Mal fragte: «Glaubt Ihr das?» Es gab immer mindestens einen, der oder die den jeweiligen Halbsatz bejahte: Ich glaube an Gott den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde, Jesus Christus, seinen Sohn, die Jungfrau Maria, Pontius Pilatus, die Kreuzigung, das Reich des Todes, die Auferstehung und die Himmelfahrt, an das Jüngste Gericht, die Kirche, die Sündenvergebung und das ewige Leben. Aber es gab nirgends eine Aussage, welche alle glaubten.

Ich glaube

Bei keinem einzigen Element des Glaubensbekenntnisses fanden sich alle, ausser ganz am Anfang: Ich glaube. Hier, und nur hier, streckten sich alle Hände in die Höhe. Alle glaubten etwas – nur was sie glaubten, das war offenbar ziemlich unterschiedlich. Das hat gute reformierte Tradition. Im 19. Jahrhundert stritten die Pfarrer in der Schweiz und Deutschland um die Verbindlichkeit eben dieses Glaubensbekenntnisses. Kann man verlangen, dass der Pfarrer – die erste Pfarrerin gab es erst ein halbes Jahrhundert später – im Gottesdienst das Glaubensbekenntnis spricht, wenn er selber gar nicht daran glaubt? Kann man der Gemeinde Aussagen zumuten, die, so die Gegner, dem modernen Denken widersprechen? Oder ist gerade dieses Bekenntnis eine notwendige Grundlage unseres Glaubens und unserer Kirche? Und so wäre es zumindest bei Taufgottesdiensten zwingend, weil es dort um die Aufnahme in die Gemeinschaft der Christinnen und Christen geht. Was bleibt von dieser Gemeinschaft, wenn alle sich ihr Glaubensbekenntnis selber zusammenstückeln können?

Um nicht die Kirche zu spalten, einigten sich damals die evangelisch-reformierten Schweizerischen Kirchen darauf, sich nicht auf ein vorformuliertes Bekenntnis, sondern allein auf die Heilige Schrift zu berufen. Sie sind seither «bekenntnisfrei, aber nicht bekenntnislos», wie es oft heisst. Vor zwanzig Jahren führte eine kirchliche Imagekampagne wieder zu ähnlich heftigen Debatten: Einige reformierte Kantonalkirchen warben auf provozierenden Plakaten mit Begriffen wie «Schöpfung», «Respekt» oder «Toleranz» und dem Slogan darunter: «Selber denken. Die Reformierten». Dieses selber Denken wurde daraufhin sprichwörtlich, und die Auseinandersetzung ist immer noch nicht an ihr Ende gekommen: Ist für unsere Kirche das selber Denken grundlegender als das gemeinsame Glauben – oder ist es umgekehrt?

Das Spannungsfeld von Glauben und Denken
Ich meine, es ist gut, dass wir darüber immer noch streiten! Wo einseitig das eine auf Kosten des anderen betont wird, verliert die Kirche an Glaubwürdigkeit. Und wo es umgekehrt geschieht, verliert sie an Bedeutung.

Das Spannungsfeld von Glauben und Denken prägt auch meine persönliche Biografie. Als gemässigt landeskirchlich geprägte Jugendliche begegnete ich in einem freikirchlichen Jugendlager erst einer fetzigen Musik, die mich begeisterte, dann einer klaren und eindeutigen Verkündigung und schliesslich meinem persönlichen Herrn Jesus Christus. Diese Gemeinschaft packte mich ganz anders als es die Landeskirche getan hatte. Ich genoss die familiäre Wärme und Zugehörigkeit in der Gemeinde und teilte die Überzeugung, dass die Bibel in allen Aspekten des Alltags eine Rolle spielen sollte. Das war Gemeinde, wie sie von Gott gemeint sein musste. Das war Kirche als die Gemeinschaft der Heiligen, nein: der Geheiligten, die sich ihrer Sündhaftigkeit und ihrer Rechtfertigung durch Christus zutiefst bewusst waren. Die wahre Gemeinschaft der Gläubigen im Gegensatz zu den Ungläubigen, welche diesen Schritt nicht gemacht hatten. Und das alles stand in der Bibel, an welche man nur zu glauben brauchte.

Als ich mich nach der Matura für das Studium von Philosophie und Theologie entschied, ging ich davon aus, dass das Denken so etwas wie die kleinere Schwester des Glaubens war. Gott hatte uns doch mitsamt unserem Verstand erschaffen, und sicherlich konnte uns das Denken nicht vom Glauben abbringen. Einige wohlmeinende Mitglieder meiner Gemeinde waren allerdings anderer Ansicht und versuchten mich mit Verweis auf Sprüche 3,5 (verlass Dich auf Gott und nicht auf Deinen Verstand) von dieser Wahl – und wenn, dann doch wenigstens nicht an der Uni – abzuhalten. Tatsächlich vertiefte ich mich dort in ganz unterschiedliche Weltbilder, christliche und atheistische, aber vor allem auch solche, in denen die Frage nach Gott und Glaube überhaupt keine Rolle spielte, weder im positiven noch im negativen Sinn. Und sie brachten mich zum Nach- und Weiterdenken. Man konnte den Alltag auch ganz ohne Gott leben und denken – und man konnte dabei trotzdem ein sehr tief nachdenklicher und moralisch hochstehender Mensch sein.

Es war sogar möglich, die Bibel historisch kritisch zu lesen und nach allen Regeln der wissenschaftlichen Kunst zu analysieren und trotzdem (oder erst recht?) ein überzeugter Christ, eine überzeugte Christin zu sein. Oder auch nicht.

Was heisst Christ sein?
Vielleicht war die Sache doch nicht so einfach. Was haben, können, wissen, glauben Christinnen und Christen mehr oder anderes als Nicht-Christen? Was unterscheidet ein Weltbild mit Gott von einem ohne? Irgendeinem Gott? Und was passiert, wenn ich die Bibel so ernst nehme, dass ich mehr über ihre Entstehung und ihren geschichtlichen Hintergrund wissen will – auch wenn ich dann die einzelnen Verse nicht mehr einfach so wörtlich für mich in Anspruch nehmen kann? Wie kann ich die Forschungen in der Evolutionsbiologie und den Neurowissenschaften aufrichtig fasziniert verfolgen und über deren Konsequenzen für meinen Glauben nachdenken? Und wie komme ich mit Menschen in einen ehrlichen und respektvollen Dialog, die anders oder gar nicht glauben?

Auf den Schultern einer Traditionsgemeinschaft
Zum Glück bin ich weder die Erste noch die Letzte, die solche Fragen stellt. Selber fragen, selber denken, selber zweifeln und selber glauben – das können wir nicht anders tun, als in einer Traditionsgemeinschaft, die Jahrhunderte und Jahrtausende zurückreicht und die uns dafür Gedanken, Strukturen und Sprache gegeben hat. Zusammen mit den Psalmbetern Gottes Schöpfung beschreiben und bewundern, zusammen mit Hiob Gottes Güte bezweifeln und bekennen. Zusammen mit den biblischen Autoren im babylonischen Exil Gott neu kennen lernen und gemeinsam mit den Evangelisten im Angesicht von Jesus von Nazareth die jüdischen Traditionen und mit Paulus das griechische Denken neu verstehen lernen. Sich in die Geschichte der frühen Kirche hineinstellen, eine Theologie ausarbeiten, die Einiges ausschliesst, ja verketzert, um ihre Identität zu finden. Worte finden, um Jesus als wahren Mensch und wahren Gott zu bekennen. Die Trinität mit dem Geist Gottes und die in der Reformation neu gefundene Sünde und Gnade verstehen. Das Ringen um die Geschichtlichkeit der Bibel mit ihren verschiedenen Autoren, die mit- und nebeneinander, je in ihrer Zeit und doch gemeinsam, unerschütterlich auf den «Ich bin, der ich bin» weisen. Und in jüngerer Zeit die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Nicht-Glaubens, die Säkularisierung, Individualisierung, Pluralisierung des Glaubens. Der christliche Glaube und die christliche Kirche sind nicht mehr selbstverständlich und nicht mehr einheitlich – wenn sie das denn je waren. Und in alldem versuchen wir die Relevanz zu finden – für mich, für uns, als Individuum, als Kirche, als Gesellschaft, als Welt.

Ein Glaube, der viel weiter geht
Unser Glaube, ob wir uns nun evangelikal verstehen oder kulturprotestantisch, politisch radikal oder bewahrend, landes- oder freikirchlich, ist trotz aller Differenzen unser Glaube, und nicht meiner. Er wurzelt in dieser so vielfältigen und reichen Traditionsgemeinschaft, bleibt darin aber nicht stecken. Wurzeln zu haben heisst, aus diesem Boden Kraft zu schöpfen, um zu wachsen. Sich dann daraus heraus auszustrecken, eigene Räume zu erobern und Neues auszuprobieren. Das können wir nur mit einem Boden, der uns Halt gibt. Einem Boden, den wir mit anderen teilen, auch wenn sie ganz unterschiedlich darauf wachsen.

Das ist für mich Kirche. Viel grösser und älter, als die Organisation, deren Mitgliederzahlen gerade rapide abnehmen. Viel stabiler und tröstlicher, als ihre Exponentinnen und Exponenten, die gerade Schlagzeilen machen. Viel weiter als diejenigen, die sich in Frömmigkeitsströmungen und Konfessionen gegeneinander abgrenzen. Und vielleicht sogar weiter als die Religionen, die sich gegenseitig die Wahrheit absprechen. Und das alles mit uns starrköpfigen, rechthaberischen und unsicheren Menschen. In dieser Unterschiedlichkeit sind wir Kirche. Wir, die wir unsere Wurzeln in dieser Traditionsgemeinschaft haben, mehr oder weniger, tiefer oder oberflächlicher, glaubensgewisser oder zweifelnder. Kein Wunder, dass wir uns nicht auf ein gemeinsames Bekenntnis einigen können! Was einige von ganzem Herzen glauben, können andere nicht widerspruchsfrei denken. Und wo die einen denken können wollen, fühlen sich die anderen in ihrem Glauben bedroht.

Kyriake – Dem Herrn zugehörig
Mir hilft es, mich daran zu erinnern, dass das Wort «Kirche» ursprünglich nichts mit einem menschlichen Bekenntnis zu tun hat. Es kommt vom griechischen «kyriake», was bedeutet: «dem Herrn zugehörig». Diese Zugehörigkeit hängt nicht an unserer eigenen Leistung und Anstrengung. Ebenfalls nicht an unserem Glauben. Es hängt allein daran, dass Gott in Jesus Christus Mensch wurde und durch seinen Geist unter den Menschen gegenwärtig ist und bleibt. Es ist keine Selbstbezeichnung, sondern eine Fremdbeschreibung, wie die der Magd, als sie zu Petrus sagte: «He, bist Du nicht auch einer, der zu diesem Jesus gehört?» Und auch wenn Petrus erschreckt reagiert: «Nein, ich doch nicht!», so gehört er doch zu diesem Jesus und kann nicht anders.

Ich glaube an Gott und seine Zuwendung zum Menschen in seinem Sohn und durch seinen Geist. Und daran, dass wir zu ihm gehören. Aber ich glaube nicht an die Kirche. Ich glaube nicht an Organisationsformen und nicht an Machtstrukturen, nicht an Abendmahlsverständnisse und auch nicht an geistliche Gesetze. Auch wenn vieles davon sicher nötig ist, wie zum Beispiel die Diskussionen über die Kirchenentwicklung, die Organisationsstrukturen und die Ökumene in und zwischen den Konfessionen. Das sind menschliche Dinge, die zu bewegen und gestalten wichtig ist.

Aber ich glaube nicht daran. Ich glaube nicht an die, sondern die Kirche, als die Traditionsgemeinschaft und den weiten Boden, in dem wir in unserer ganzen Verschiedenheit mit- und manchmal auch gegeneinander verwurzelt sind; etwas, das ich nur immer wieder glauben kann, oft gegen den Augenschein, oft als ein Trotzdem. Und manchmal als ein Ja, genau so! Wir sind kyriake, wir gehören zu dem, welchen die ersten Christinnen und Christen «Herr» nannten. Das hält uns zusammen. «Ich glaube die Kirche». Nicht anders ist es auch im apostolischen Glaubensbekenntnis formuliert.

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