Von Timo Schuster
Ich sitze im Zug und bin unterwegs zum Flughafen. Zum ersten Mal in meinem Leben reise ich in die arabische Welt. In mir ist eine Mischung aus Vorfreude, Respekt und eine Portion Unbehagen vor der unbekannten Kultur und Umgebung. Gemeinsam mit meinem Mentor und unserer kleinen Mentoringgruppe reisen wir nach Kairo und Assuan (Ägypten), um Land und Leute besser kennenzulernen.
Ich denke dabei gerade viel über Grenzen nach. Heute werde ich einige Grenzen überschreiten. Geografische, aber auch kulturelle ... Viele Grenzen sind ja bereits in unseren Köpfen fest verankert. Warum grenzen wir uns gegen andere, das Fremde ab? Aus Angst? Warum fällt es uns oft so schwer, auf andere Menschen zuzugehen und sie zu uns einzuladen? Ja, Grenzen schützen, schränken uns aber auch manchmal ein.
Meine Grenzerfahrungen
Als Kind habe ich schon früh erfahren, was es heisst, ein Ausländer zu sein, denn mein Vater arbeitete im Nachbarland Österreich, und ich wuchs für ein paar Jahre in der Hauptstadt Wien auf. Meine Eltern hatten Mühe, die Sprache dort anzunehmen, aber ich hatte nach einiger Zeit den Wiener Akzent übernommen und konnte mich so besser mit den anderen Kindern verständigen.
Mittlerweile habe ich in drei Ländern gelebt, bin seit 2003 in der Schweiz und hier als Ausländer mit entsprechendem Ausländerausweis akzeptiert. Auch hier in der Schweiz habe ich gelernt, mich als Ausländer zu integrieren und an die hiesige Kultur anzupassen. In unserer kleinen Schweiz fällt mir immer wieder auf, dass wir uns gerne hinter unseren Grenzen verstecken, andere schnell ausgrenzen oder uns nicht leicht damit tun, uns auf neue Dinge einzulassen.
Grenzen abbauen
Nachdem wir heirateten, haben meine Frau und ich mit einer Einladungskarte unsere Nachbarschaft im Haus unserer ersten Mietwohnung zu einem Apéro eingeladen. Wir haben Snacks und Getränke aufgestellt und dann unsere Nachbarn empfangen. Es war ein toller Abend, wir konnten mit allen auf eine gute Nachbarschaft anstossen und ihnen das «Du» anbieten. Was mich dabei wunderte: Obwohl einige unserer Nachbarn dort schon über 20 Jahre wohnten, waren sie sich teilweise noch fremd, und einige hatten sich erst an dem Abend bei uns das «Du» angeboten. Wie kann das sein? Unglaublich, aber wahr! Man wohnt im gleichen Haus und kennt die Nachbarn kaum, die ein und aus gehen ... Klar, das Leben bei uns in der Schweiz findet hauptsächlich hinter den vier Wänden statt. Dabei braucht es oft gar nicht viel, um einen Schritt auf den Nächsten zuzugehen. Leider sind wir oft so beschäftigt, dass wir kaum Zeit haben für ein spontanes Gespräch, dass sich am Nachbarszaun, im Garten oder Treppenhaus entwickeln kann.
Unsere jetzigen Nachbarn, ein älteres Ehepaar, mittlerweile beide über 80 Jahre alt, sind mir da ein grosses Vorbild. Sie hatten neben drei eigenen Kindern noch Pflegekinder und der Mann, gelernter Bäcker und Konditor, hat früher nach Feierabend noch in der Gastwirtschaft seiner Eltern geholfen. Bis vor kurzem hat er samstags noch bis zu 60 «Züpfe» in der Garage gebacken, die Bekannte auf Bestellung abholen konnten. Bei ihnen am Tisch treffen sich Verwandte, Bekannte oder auch wir als Nachbarn sind eigentlich immer willkommen. Es geht nicht lange und wir bekommen ein Glas Wein oder einen «Café» angeboten; es wird berichtet, zusammen gelacht und so manche Geschichte erzählt. Hier wird Leben geteilt.
An Weihnachten hatten wir andere Nachbarn zu uns eingeladen. Er ist Moslem, kam vor gut 20 Jahren in die Schweiz, da im Kosovo Krieg herrschte. Mittlerweile hat er hier eine Familie gegründet und wohnt mit seiner Frau und zwei Kindern vis-à-vis, wurde aber in all den Jahren zuvor noch nie von Schweizern an Heiligabend eingeladen.
Ich würde mir wünschen, dass wir als Christen dafür bekannt sind, uns an unsere Nächsten zu verschenken. Einen Schritt auf meine Nachbarn zuzugehen könnte damit beginnen, dass ich mir vornehme, ihnen Zeit zu schenken, sie wirklich kennenzulernen und zu fragen, wie es geht, was sie beschäftigt oder sogar mal die Frage zu wagen: «Wer bist Du?» Beim nächsten «Small Talk» könnte ich doch mal eine Einladung aussprechen oder meine Hilfe anbieten, wenn die Gelegenheit dazu passend ist.
Botschafter der Hoffnung
Meine Geschichte, die Erziehung und Kultur, in der ich aufwachse, bestimmen meine Identität. Wenn wir uns aber für ein Leben in Verbindung mit Gott entschieden haben, spricht Er uns eine neue Identität zu: Du bist mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter und ich vertraue Dir eine besondere Aufgabe an: Du bist ein Botschafter der Hoffnung und Versöhnung, wie im Korintherbrief steht: «Ja, in Christus hat Gott die Welt mit sich versöhnt, sodass er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnet; und uns hat er die Aufgabe anvertraut, diese Versöhnungsbotschaft zu verkünden.» (2. Korinther 5,19)
Was bedeutet das für uns, Botschafter der Hoffnung zu sein? Es ist meine himmlische Berufung: den Wohlgeruch des Himmels hier auf der Erde zu verbreiten und meinen Nächsten durch mein Leben zu zeigen und zu sagen: Du bist wertvoll! Du bist geliebt! Da ist ein himmlischer Vater, der Dich einzigartig gemacht hat und Dich so sehr liebt, dass er seinen einzigen Sohn, Jesus Christus, qualvoll hat sterben lassen, um den Weg zu Gott wiederherzustellen. Er sehnt sich nach Dir! Ich weiss, mir fällt es nicht leicht, das so meinen Freunden und Bekannten zu sagen, die Jesus noch nicht persönlich kennen, aber ich glaube, dass unsere Mitmenschen unser Leben lesen und selber mit den spannenden Fragen kommen, wenn wir ihnen zuhören.
Grenzen erweitern
Was braucht es, damit wir uns aus unserer «Komfort-Zone» heraus bewegen? Ich stelle immer wieder fest, dass wir uns schon auf Neues einlassen können, um unsere Grenzen zu erweitern, wenn wir eine «Safety-Zone» (einen geschützten Raum) haben. Beruflich verbringe ich die meiste Zeit als Vocal Coach in meinem Gesangsstudio. Zu mir kommen Sängerinnen und Sänger, die ihre eigene Stimme finden und schulen lassen wollen. Mein Motto lautet: «Let Your voice sing!» (Lass Deine Stimme singen!)
Es ist eine sehr befriedigende, aber auch spannende Aufgabe, Menschen mehr Freiheit in ihrer Stimme zu geben, sie dabei aber auch an ihre Grenzen zu führen und diese zu erweitern. Im Studio gehen die meisten Sänger nach einer Coaching-Lektion glücklich nach Hause, weil sie in einer sicheren Umgebung unter Anleitung Dinge mit ihrer Stimme ausprobieren konnten, Freiheit erlebten und merkten, dass Dinge möglich sind, die sie vorher für unwahrscheinlich gehalten hätten.
Ich glaube, dass in meinem Leben eine neue, spannende Dimension möglich ist, wenn ich mich täglich von Gott herausfordern lasse und ihn frage, was er für mich vorbereitet hat. Ich muss dabei der Stimme seines Geistes, die oft nur ganz leise in meine Gedanken spricht, mehr Glauben schenken, als dem, was ich um mich herum sehe oder erlebe. Wenn ich den Tag beginne, ist mein Gebet: «Herr, lass mich heute ein Kanal Deiner Liebe sein. Zeige mir, wie ich den Menschen, die Du mir heute über den Weg schickst, ein Botschafter Deiner Liebe sein kann.» Ich merke oft am Ende des Tages, wie viel Freude und Erfüllung ich verspüre, wenn ich sehe, wie bestimmte Situationen verlaufen sind, so dass ich durch ein passendes Wort oder eine Tat im richtigen Augenblick Gutes weitergeben konnte.
Den Fokus ändern
In Thun setze ich mich seit einigen Jahren immer wieder dafür ein, unseren Fokus auf den Nächsten zu richten. Dabei organisieren wir auch Veranstaltungen, die sehr einladend gestaltet sind. Wir leiten den Kulturverein «Art & Act» und haben uns im letzten Jahr dafür entschieden, das Musical über «Martin Luther King – Ein Traum verändert die Welt» als Schweizer Premiere in Thun auf die Bühne zu bringen.
«Es geht um den Gegensatz einer ‹Gutmenschen- Illusion› zu einer ‹konkreten politischen Utopie›», beschreibt der Librettist (Textschreiber) den Bezug zu Kings Leben und Wirken. «Einer Utopie, einer Idee, für die es sich zu kämpfen lohnt, auch wenn sie momentan noch nicht verwirklicht ist. Es geht um seine Prinzipien und sein praktisches Training gewaltloser Aktionen zugunsten von Entrechteten. Was für Martin Luther King die US-Afroamerikaner in den 60er-Jahren waren, sind für uns heute die Flüchtlinge und die ‹Working Poor› im Europa und globalen Welthandel des 21. Jahrhunderts.»
Die Komponisten Hanjo Gäbler und Christoph Terbuyken und der Librettist Andreas Malessa haben das Chormusical anspruchsvoll, herausfordernd und inspirierend als Einladung für jeden gestaltet, sich mit den eigenen Fähigkeiten einzubringen, um positive Veränderung hervorzurufen.
Martin Luther King als Vorbild
Das Musical tritt damit als Botschafter auf: für die Gute Nachricht des christlichen Glaubens, die Dr. King motivierte und für ein Bewusstsein, dass der Einsatz jedes Einzelnen zum Wohle von Mensch und Umwelt zählt. Kings Traum und sein gewaltloser Einsatz für Menschenrechte inspirieren zum Nachsinnen über das Weltgeschehen und das eigene Handeln mit Weltveränderungscharakter.
Martin Luther King kann mit seinem Engagement Vorbild und Mutmacher sein, um dem Traum einer gerechteren Welt stetig näher zu kommen. So singt Martin Luther King im Musical in dem Lied «Ich hab den Traum», der auch zu meinem Traum geworden ist:
«Alle sind wir frei und gleich gebor'n.
Menschenwürde geht niemals verlor'n.
Du und ich sind Gottes Ebenbild.
Auf Papier steht’s schon lange hier.
Doch hat es sich erfüllt?
Wenn man niemand minderwertig nennt,
Menschenrechte nicht nach Farben trennt,
leben wir konkret die Utopie,
und der Streit, der nach Freiheit schreit,
wird zur Symphonie.
Ich hab den Traum, dass bald ein Geist der
Liebe weht. Ich hab den Traum, der Hoffnung
in die Herzen sät. Ich hab den Traum, dass
man mit Leidenschaft und Mut den Willen
Gottes hört und tut. Das ist mein Traum,
das ist mein Ziel, meine Vision.
Mein Traum ist der,
dass uns Barmherzigkeit berührt,
und uns zur Not des Nächsten führt.»
Das ist mein Traum, das ist mein Ziel, meine Vision
Ich weiss nicht, wo Deine Grenzen liegen, aber wenn Du auch ein Botschafter der Hoffnung und Liebe Gottes sein möchtest, kannst Du Gott darum bitten, Dein Herz mit Seiner Liebe zu berühren oder neu zu entfachen. Du kannst ihn auch darum bitten, Dir Barmherzigkeit zu schenken und Dich zur Not Deines Nächsten zu führen. Er möchte Dich mit Deinen Fähigkeiten dort gebrauchen, wo Du bist, damit sich Dinge in Deinem Umfeld zum Guten ändern. Es passiert nicht durch Deine Kraft, aber durch Gottes Kraft, die in Dir wirkt – und Du bist dabei!
Zur Person
Timo Schuster – Projektleiter des Martin Luther King-Chormusicals. Der 46-Jährige ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er wohnt mit seiner Familie in Steffisburg und leitet dort den Kulturverein «Art & Act» und arbeitet als Vocal Coach in seinem ULTIMO VOCAL STUDIO.