Von Ruedi Josuran
Jeder Mensch kennt das bittersüsse Gefühl der Sehnsucht. Sehnsucht ist ein Ziehen in der Brust, es schmerzt, löst aber auch schönes Schwelgen in den Vorstellungen vom grossen Glück aus. Unzählige Songtexte sprechen davon. In meinem Kopf höre ich den Hit von Francine Jordi «Das Feuer der Sehnsucht». Sehnsucht ist die Vorstellung davon, was das «perfekte Leben» wäre. Jeder Mensch hat eine ganz persönliche Vorstellung von diesem «perfekten Leben». Für den einen ist dies das Zusammenleben mit einem Partner in unzerstörbarer Harmonie, für den anderen ist es ein Leben in vollkommener Unabhängigkeit und Autonomie. Und doch bleibt es irgendwie «unerreichbar». Manchmal stehen Statussymbole für unsere Sehnsucht. Man sehnt sich nach einem vorzeigbaren Sportflitzer, der für Unabhängigkeit, Freiheit und Unbeschwertheit steht.
Sehnsüchte können aber auch anzeigen, was im Leben wirklich wichtig ist. Im besten Fall dienen sie als Wegweiser dabei, konkrete Ziele und Schritte formulieren zu können. Zum einen für die Zukunft, zum anderen aber auch zur Reflexion des bisherigen Lebens. Vielleicht stellen wir fest, dass wir an unseren Träumen vorbei leben, und irgendwo ganz anders stehen als dort, wo unsere innere Sehnsucht uns hinträgt. Vielleicht sehnen wir uns nach der perfekten Partnerschaft und nehmen die Sehnsucht zum Anlass, unsere Beziehung zu reflektieren. Möglicherweise fehlt etwas Entscheidendes, und im besten Falle suchen und finden wir es.
Augustinus, Kirchenlehrer der Spätantike, sagte: «Immer, wenn sich ein Mensch leidenschaftlich nach etwas sehnt – zum Beispiel nach Liebe, Besitz, Geld oder Anerkennung – steckt dahinter eine spirituelle Sehnsucht. Die Sehnsucht, dass der tiefe Hunger in der Seele irgendwo gestillt wird.» An einer therapeutischen Fachtagung hörte ich mal die Aussage: «Sucht ist häufig verdrängte Sehnsucht». Der Buchautor Anselm Grün schlug vor, den umgekehrten Weg zu gehen, nämlich den, die Sucht wieder in Sehnsucht zu verwandeln. Die Lateiner nennen Sehnsucht «desiderium». Es kommt von «sidera» – zu Deutsch: die Sterne. Ich finde, das passt. Wenn wir uns den Sternenhimmel anschauen, fühlen wir diese Sehnsucht nach Heimat, nach etwas Grösserem – letztendlich nach Gott, der uns die Sehnsucht tief ins Herz gelegt hat. Ich glaube auch, jeder Leidenschaft liegt diese Suche nach der «perfekten» Liebe Gottes zugrunde. Sie hält uns wach und lebendig.
Wie kann ich mir aber der bedingungslosen Liebe Gottes bewusst werden? Die Taufe Jesu im Lukasevangelium, Kapitel 3, ist für mich eine grosse Hilfe. Gottes ultimative Bestätigung kommt vom Himmel her: «Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden», hört Jesus bei der Taufe im Jordan. Und dieser Gott, der mich durch die Brille der Hingabe seines Sohnes sieht, hat auch nur gute Gedanken über mir. Diese Bestätigung der Liebe Gottes darf ich in meine Angst, in meinen Zweifel, in meine Dunkelheit hineinsprechen als Gegenentwurf zu den negativen, inneren Dialogen. Diese Wahrheit über mich war schon vor meiner Suche nach Gott da. Er hatte mich schon gefunden und wartete auf mich. In der Stimme Gottes über meinem Leben sind auch meine tiefsten Sehnsüchte verborgen. Dort finden sie ihren Frieden. Nicht immer, aber immer öfter.