Von Michelle Boss
Haben Sie schon einmal einen «Sorgenfresser» gesehen? Es handelt sich hierbei um kleine Kuscheltiere mit fröhlichem Gesicht und breitem Maul in Form eines Reissverschlusses. Kinder können ihre Sorgen vor dem Schlafengehen auf einen Zettel schreiben und diesen im Maul des Sorgenfressers verschwinden lassen. So sind sie sicher verwahrt, und im besten Fall gelingt es den Kindern, ihre Sorgen loszulassen und zu vergessen.
Entwickelt wurden die Sorgenfresser 2008 vom deutschen Filmproduzenten Gerhard Hahn, der mit seinen Plüschfiguren ganz offensichtlich einen Nerv traf. Sie wurden inzwischen mehrfach ausgezeichnet und erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit – nicht nur bei Kindern.
Für uns Erwachsene gelten Kinder oft als Symbol der Unbeschwertheit. Sehnsüchtig denken wir zurück an diese Zeit, in der nur das JETZT zählte, wir den Moment genossen und uns keine Sorgen um das Morgen machten. Hat es sie tatsächlich je gegeben, diese Zeit der Unbeschwertheit? Oder tendieren wir dazu, unsere Kindheit nachträglich zu verklären?
Ich weiss es nicht. Was ich aber weiss, ist, dass zumindest heutige Kinder oft meilenweit entfernt sind von einer totalen Unbeschwertheit. Davon zeugt nicht nur der Erfolg dieser Plüschtiere, die beim Bewältigen offenbar oft übermächtiger Sorgen helfen sollen. Auch meine Erfahrungen mit meinen eigenen Kindern und Gespräche mit Eltern in meinem Umfeld weisen in diese Richtung.
Spätestens mit dem Eintritt ins Schulsystem ist ein reines Leben im Moment gar nicht mehr möglich. Die Kinder sind konfrontiert mit Anforderungen und Zielen und hören nur zu oft, dass der «richtige Ernst des Lebens» erst noch vor ihnen liegt. Inwiefern dieser Satz Kinder unterstützen soll, die sich bereits in der aktuellen Situation gefordert oder gar überfordert fühlen, sei dahingestellt. Fakt ist, dass wir unsere Kinder schon sehr früh ans Leistungsdenken unserer Gesellschaft heranführen. Dies lässt sich selbst mit bewusstem Dagegenhalten kaum vermeiden.
Vielleicht liegt es aber auch schlicht in der Natur des Menschen, sich Sorgen zu machen. Auch schon ganz kleine Kinder berichten durchaus von ihren Sorgen. Wir Erwachsenen reden dann davon, dass ja nur «eine kleine Welt in Brüche geht». Dennoch – für Kinder ist es eine Welt. Wenn sie vor Sorge nicht einschlafen können, spielt es ja letztlich keine Rolle, ob es dabei um den Streit über eine Sandkastenschaufel oder um die bevorstehende Strommangellage geht.
Was Kindern möglicherweise aber tatsächlich besser gelingt, ist, ihre Sorgen zwischenzeitlich zu vergessen. Sich nicht dauerhaft von ihnen beschweren zu lassen. Trotzdem in Momenten des Spiels Begeisterung und höchste Freude zu empfinden. Und womöglich liegt hierin auch das Geheimnis, wie auch wir eine gewisse Un-Beschwertheit erleben können. Das Ziel muss ja gar nicht sein, keine Sorgen mehr zu haben. Und auch nicht, sie zu verdrängen. Aber sie immer wieder für eine gewisse Zeit zur Seite zu legen, im Hier und Jetzt zu leben und den Moment zu geniessen.
Ein Sorgenfresser, bei dem wir unsere Sorgen deponieren können, ist hierzu bestimmt hilfreich. Sei es in Form eines Plüschtiers mit Reissverschluss-Maul, eines virtuellen Kummerkastens oder in der Form Gottes als Anlaufstelle, der für Sorgen stets ein offenes Ohr hat.