Von Johannes Grassl
Johannes Grassl ist Berater und Coach für Unternehmer und Führungskräfte. Sein Herz schlägt für ganzheitlichen Erfolg im Arbeits- und Privatleben – sowohl in seinem eigenen als auch in denen der vielen Menschen, die als Ratsuchende zu ihm kommen. Ein Thema, das ihm in den Gesprächen oft begegnet, wenn auch in unterschiedlichen Gewändern verpackt, ist der Umgang mit Ressourcen und die Balance von drei wichtigen Lebensbereichen.
Der Mann am Telefon war spürbar niedergeschlagen und klagte mir sein Leid – seine Frau hatte ihn verlassen. Im Gespräch fragte ich ihn nach seinem Lebens- und Arbeitsrhythmus. Als Unternehmer, erzählte er mir, beginne sein Arbeitstag üblicherweise um sechs Uhr früh und dauere bis in den späten Abend, selbstverständlich von Montag bis Samstag. Am Sonntag würde er nicht arbeiten, sonntags mache er nur Buchhaltung und erledige, was die Woche hindurch liegengeblieben sei. Auf meine Frage, wie lange seine Frau das schon mitmache, sprach er von «etlichen Jahren» – bis zu diesem Moment, an dem das Fass zum Überlaufen kam. Ein trauriges Beispiel für ein aus der Balance geratenes Leben und den hohen Preis, den wir dafür bezahlen.
Das Gleichgewicht bewahren
Im Wörterbuch wird Balance mit Gleichgewicht bzw. Gleichverteilung umschrieben. Auf unser Leben bezogen heisst das, dass es verschiedene Ebenen gibt, die wir im Blick behalten und auf die wir unsere Ressourcen wie Zeit und Energie klug verteilen sollten. Andernfalls droht eine Schieflage mit teuren Konsequenzen, wie das Beispiel des Unternehmers zeigt. Ich erkenne drei Ebenen, die unser Leben vor allem ausmachen: Beruf, Beziehungen und Persönlichkeit.
Von innen nach aussen
Hand aufs Herz: Wenn Sie die Wahl haben, eine freie Stunde entweder in ein berufliches oder privates Projekt zu stecken oder aber mit Ihren Kindern zu spielen oder sich einfach Zeit zum Ausruhen und Nachdenken zu nehmen – wie entscheiden Sie? Meist zieht es uns in den äusseren Kreis. Es ist wie in einem Karussell: Je schneller sich unser Leben dreht, desto stärker sind die Fliehkräfte ins Tun und Leisten. Hier lauert die Gefahr: Die Dynamik trägt uns nach aussen – das Wesentliche aber geschieht innen: in der Beziehung zu Gott, zu anderen und zu mir selbst. Warum tendieren wir dazu, die inneren Kreise zu vernachlässigen? Als leistungsorientierte Menschen definieren wir uns vor allem über die Arbeit, die wir tun, oder die Ergebnisse, die wir erzielen. Im Tun fühlen wir uns wohl. Nichts tun ist schwierig. Diese Erfahrung mache ich immer wieder. Was passiert, wenn ich während eines Seminars plötzlich eine Pause mache und bewusst nichts tue? Es dauert nur kurze Augenblicke, bis die Teilnehmer irritiert ihr Smartphone hervorholen und beginnen, sich abzulenken. Stille auszuhalten und sich selbst zu begegnen, ist gar nicht so einfach.
Führung übernehmen
Sie haben eine wunderbare Aufgabe: Ihr ganzes Leben gesund und erfolgreich zu führen. Ihr oberster Führungsauftrag ist deshalb nicht der Job oder die berufliche Karriere, sondern alle drei Kreise. Gerade weil wir uns viel im äusseren Kreis bewegen, braucht es immer wieder einen Blick auf das Ganze und unser aktives Handeln, um den mittleren und inneren Kreis ausreichend zu berücksichtigen. Balance passiert nicht einfach so, sondern ist das Ergebnis guter Selbstführung. Dazu gehört, dass wir das Wichtige vor dem Dringenden schützen. Dringend ist all jenes, das sich aufdrängt (denken Sie nur an das permanente Pling und Plong des Smartphones). Wichtig ist all das, was in Ihrem Leben auf lange Sicht eine grosse Auswirkung hat. Eine junge berufstätige Mutter, die sich vielfältig in Kirche und Vereinen engagiert, hat das erkannt. Sie schrieb mir als Feedback auf mein neues Buch: «Seit einigen Tagen stelle ich mir immer wieder bewusst die Frage, in wen ich mich investieren soll und wer und was wirklich wichtig ist in meinem Leben.»
Das Ganze sehen
Machen Sie es wie diese junge Frau: Denken Sie über sich und Ihr Leben nach. Roger Martin, einer der einflussreichsten Management-Denker unserer Zeit, wird in einem Interview gefragt: «Herr Martin, wenn Sie einer Führungskraft nur einen einzigen Rat geben sollten, wie würde dieser lauten?» Spannung liegt in der Luft. Antwort Martin: «Sie müssen sich in Ihrem Leben Zeit zum Nachdenken nehmen. Wenn Sie Ihre Zeit mit Dingen füllen, die Ihnen keine Zeit lassen, sich zurückzulehnen und nachzudenken, dann wird Sie das eines Tages einholen.»1 Wie ein Bildhauer immer wieder einen Schritt von seinem Werk zurück machen muss, um das grosse Ganze anzuschauen und um sicherzustellen, dass er mit seinem Tun noch richtig unterwegs ist, so brauchen auch wir immer wieder den Schritt heraus aus unserem Alltag, um das grosse Ganze unseres Lebens anzuschauen. Wie sehen die drei Kreise in Ihrem Leben aus? Wo gibt es Schieflagen? Was können Sie tun, um die Balance zu verbessern?
Können Sie sich spüren?
Warum leiden so viele Menschen, vor allem auch solche in Leitungspositionen? Peter Scazzero, Experte für emotionale Gesundheit, hat darauf eine klare Antwort: Die Geschwindigkeit ihres Lebens ist zu hoch! Viele sind zu schnell unterwegs, investieren sich nach aussen, aber brennen innerlich dabei aus. Deshalb ist es wichtig, dass wir achtsam mit uns umgehen. Das beginnt damit, der Wahrheit unseres Lebens ins Auge zu schauen. Reflektieren Sie sich ehrlich: Wie geht es mir wirklich? Lebe ich oder werde ich gelebt? Kann ich mich noch spüren oder habe ich den Kontakt zu mir selbst verloren? In unseren Unternehmen geben wir viel Geld dafür aus, eine Kultur zu entwickeln, in der sich die Mitarbeitenden wohlfühlen und gute Leistungen bringen. Wie aber sieht es mit unserer persönlichen Kultur aus? Noch einmal Peter Scazzero: «Ihr inneres Leben, der Zustand Ihres Herzens, das ist Ihre Kultur. Und Ihre Kultur ist das wichtigste Geschenk, das Sie Ihrer Familie, Firma, Organisation, Gemeinde und jeder Person, mit der Sie zu tun haben, machen können.»
In die Ruhe kommen
Der Schöpfungsbericht in Genesis gibt eine gesunde Struktur vor: auf intensive Phasen des Arbeitens und Schaffens folgt ein Zeitfenster der Ruhe und Erholung. In unserer hektischen und digitalisierten Welt aber muss Ruhe erobert und verteidigt werden. In seinem Bestseller «Das Ende der Rastlosigkeit» macht John Mark Comer einen für unsere Zeit und Kultur radikalen Vorschlag: Nehmen Sie sich einen Tag in der Woche frei, 24 Stunden am Stück. Streichen Sie an diesem Tag alles aus Ihrem Terminkalender. Schalten Sie Ihr Smartphone aus (oder zumindest: reduzieren Sie den Gebrauch deutlich). Sprechen Sie ein Gebet, treten Sie bewusst in die Ruhe ein. Und dann? Geniessen Sie den Tag. Auf jede Weise, die für Ihre Seele lebensfördernd ist. Machen Sie einen Spaziergang in der Natur, geniessen Sie ein gutes Essen und fröhliche Gemeinschaft, feiern Sie das Leben und tun Sie etwas, um sich selbst wieder zu spüren. Wir in unserer Familie setzen das bewusst um. Dieser Tag ist das Highlight der Woche.
Der Schutz der Herde
In der afrikanischen Savanne kann man das gut beobachten. Welches Tier wird vom Löwen gefressen? Das, welches den Schutz der Herde verlässt. In unserem Leben ist das ähnlich. Wir brauchen einander, den Schutz, die Ermutigung, die Stärkung und manchmal auch die Korrektur in der Gemeinschaft. Alleine und nur auf uns gestellt, sind wir leichte Beute. Wie oft hätte ich in schwierigen Phasen schon das Handtuch geschmissen ohne die Unterstützung meiner Frau und enger Freunde! Gute Beziehungen beleben und helfen uns, das Leben ganzheitlicher zu sehen. Es geht nicht nur um uns, es geht auch um die anderen. Deshalb: Suchen Sie die Gemeinschaft. Nehmen Sie sich Zeit für echte Freundschaften. Wer sind die wichtigsten Menschen in Ihrem Leben? Investieren Sie sich ganz neu in diese Beziehungen.
Alles auf den Prüfstand
In der Regel leiden wir nicht an zu wenigen, sondern an zu vielen Aufgaben und Jobs. Deshalb ist es immer wieder wichtig, zu fragen, warum Sie tun, was Sie tun. Nehmen Sie ein weisses Blatt Papier und schreiben Sie darauf alle Ihre Aufgaben, Tätigkeiten, Ämter und Jobs. Und dann fragen Sie sich bei jedem einzelnen Punkt: Warum tun Sie das? Was ist Ihr ehrliches Motiv? Macht Sie diese Aufgabe lebendig und können Sie mit Ihrem Engagement die gewünschte Wirkung erzielen? Oder haben Sie eine bestimmte Aufgabe nur übernommen, weil Sie nicht Nein sagen konnten und Erwartungen anderer nicht enttäuschen wollten? Und wenn eine Tätigkeit oder ein Amt früher für Sie richtig war – ist sie es dann auch heute noch? Wer und was ist in Ihrem Leben wirklich wichtig und es wert, dass Sie Ihre Zeit und Ressourcen investieren? Die Lösung für unseren vollgepackten Alltag ist nicht mehr Zeit. Die Lösung ist, unser Leben auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wie im Garten sollte auch unser Lebensbaum immer wieder zurechtgeschnitten werden, damit die verfügbaren Ressourcen in die Leitäste, das heisst in die wirklich wichtigen Lebensbereiche und Aufgaben, fliessen. Seien Sie mutig und schneiden Sie tote Äste ab. Der Baum wird aufblühen.
Sehnsucht unseres Herzens
Seit dem Garten Eden ist uns etwas verloren gegangen: die Ganzheitlichkeit und Balance unseres Lebens. Das hebräische Wort Eden bedeutet «Land der Glückseligkeit». Aus diesem Land kommen wir, die Sehnsucht danach steckt noch immer in uns. Nachdem der Mensch die Gemeinschaft mit Gott zerstörte, wanderte er von Eden weg und wohnte im Land Nod – das heisst übersetzt «Land des ruhelosen Lebens» (1. Mose 4,16). Wenn das Ganze unseres Lebens verloren geht, beginnt das Leiden. Leib und Seele, Verstand und Emotionen, Tun und Sein, Denken und Glauben, Leisten und Lieben – das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Je mehr dieses Ganze jetzt wieder zusammen und in eine gesunde Balance kommt, umso lebendiger werden wir. Die drei Kreise Beruf, Beziehungen und Persönlichkeit stehen für Ihr persönliches Land, in das Sie hineingesetzt sind. Dieses Land soll für Sie zu einem «Land der Glückseligkeit» werden. Der Weg dahin ist eine Reise, die aus vielen kleinen Schritten besteht. Machen Sie sich auf den Weg. Ich feuere Sie an!