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Ein wesenhaft guter Gott – aber eine leidende Welt?

Mehr Fragen als Antworten
Publiziert: 23.08.2022

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Von Stefan Wenger

Ich stehe am Grab meiner Nichte und halte die Grabrede. Elins Reise durch unsere Welt hat ungefähr neun Monate gedauert, bevor sie aus dem Bauch ihrer Mama in Gottes Gegenwart «geboren» worden ist.

Ein solches Erlebnis hinterlässt bei Eltern Wunden, die in dieser Welt nie mehr ganz heilen werden. Irgendwann werden die Farben wieder heller, aber es bleiben Narben, die eine unstillbare Sehnsucht hinterlassen – und Fragen, viele, wohl unbeantwortbare Fragen: Warum? Oder vielleicht etwas christlicher gefärbt: Für was, Gott? Fragen, die wir im Einzelfall kaum jemals werden beantworten können. Und doch sehnt sich unser Geist nach Antworten, die zumindest denkbar sind.

Im Folgenden seien die Ausgangslage, das daraus resultierende Problem und mögliche Lösungsansätze zur vielleicht schwierigsten theologischen Frage skizziert, der sogenannten «Theodizee».

Die Ausgangslage
Nach der Bibel ist Gott überaus mächtig und wesenhaft gut. Gleichzeitig stellen wir fest, dass die von Gott geschaffene Welt von ungezähltem, oft namenlosem Leid durchwoben ist. Leid, das von Gottes Wesen her eigentlich gar nicht sein dürfte – im Gegenteil: Eine einzige Träne eines einzigen Kindes irgendwo auf der Welt stellt das gesamte biblische Zeugnis von Gott in Frage. Denn: Wenn Gott mächtig ist, kann er tun, was er will. Und wenn Gott gut ist, will er die Welt ohne Leid gestalten. Nun aber wird unsere Welt jeden Tag neu wieder von einem Meer von Tränen überflutet. Also ist Gott nicht mächtig oder nicht gut oder beides nicht – oder?

Das Problem
Seit Gottfried Wilhelm Leibnitz (1646–1716) wird dieses Problem als Theodizee-Problem bezeichnet (von griechisch theos/Gott und dikae/Rechtspruch/Rechtfertigung). Das ist missverständlich: Es geht nicht darum, angesichts des uferlosen Leides in unserer Welt Gott zu rechtfertigen. – Es geht vielmehr darum, trotz des uferlosen Leides den Glauben an diesen Gott zu rechtfertigen.

Die Lösung
Sie würde darin bestehen, den Glauben an einen guten und mächtigen Gott zu rechtfertigen, indem der Widerspruch zwischen dem Wesen Gottes und dem Leid in unserer Welt aufgelöst oder aber gezeigt werden würde, dass es sich dabei nur um einen scheinbaren Widerspruch handle. Das ist in der Philosophie- und Theologiegeschichte immer wieder mit unterschiedlichen Lösungsansätzen versucht worden. Aus meiner Sicht vermag keiner der zur Verfügung gestellten Lösungswege allein zu überzeugen, aber in ihrer Summe mögen sie zumindest intellektuell nachvollziehbare und möglicherweise auch hilfreiche Denkwege eröffnen.

Der Weg
Es ist aus Platzgründen nicht möglich, diese Lösungsansätze hier je einzeln und detailliert zu diskutieren. Aus diesem Grund präsentieren die folgenden Grundüberzeugungen und Thesen lediglich meine eigene Position im Sinne eines komprimierten Gesprächsbeitrags zur weiteren Diskussion.

In einem ersten Schritt seien fünf biblisch fundierte Grundüberzeugungen umrissen, die mein Denken als Christ und Theologe fundamental prägen und für das Folgende grundlegend sind. In einem zweiten Schritt werden aus den exponierten Überzeugungen im Blick auf die Frage nach der Theodizee acht Thesen abgeleitet, sodass ein (vorläufiger) Lösungsansatz resultiert, der – wie oben erwähnt – zur weiteren Diskussion einlädt.

Fünf Grundüberzeugungen
1. Es gibt nur einen einzigen Gott: Adonai, der sich als Vater, Sohn und Geist offenbart hat. Dieser eine Gott ist unvorstellbar mächtig und wesenhaft gut. Als solcher ist er zu verehren, und zwar als Schöpfer, von dem wir kommen, als Herr, vor/mit dem wir leben, und als Richter, vor dem wir uns zu verantworten haben.
2. Gott hat das Universum nach seinem Willen geschaffen, und zwar als Schöpfung aus dem Nichts (creatio ex nihilo). Dies mit dem Ziel, Gemeinschaft mit seinen Geschöpfen zu haben, insbesondere mit dem Menschen, den er als sein Ab-/Ebenbild geschaffen hat. Der Mensch findet seine höchste Berufung darin, mit Gott (ewige) Gemeinschaft zu geniessen.
3. Der Mensch hat sich von seinem Schöpfer emanzipiert. Das hat nicht nur für den Menschen selbst, sondern für die gesamte Schöpfung gravierende Konsequenzen nach sich gezogen: Unsere heutige Welt ist eine weitgehend gebrochene, von Übel und Leid durchwobene Welt; aber sie ist immer noch Gottes Schöpfung.
4. Gott hat seine ursprünglichen Ziele mit seiner Schöpfung – vor allem mit dem Menschen – nie aufgegeben. Aus diesem Grund ist er in der Person von Jesus Christus Mensch und damit selbst Teil seiner gebrochenen, leidvollen Welt geworden, um diese Welt durch seine Worte und Taten an ihre eigentliche Bestimmung zu erinnern: Ort der ungetrübten Gemeinschaft mit Gott zu sein.
5. Gott bietet durch das Sterben von Jesus Christus Erlösung an und hat mit seiner leiblichen Auferstehung damit begonnen, seine gebrochene Schöpfung zu erlösen bzw. zu erneuern; unsere gegenwärtige Welt ist nicht die letzte. Deshalb werden Übel und Leid in der Schöpfung nicht das letzte Wort haben – im Gegenteil: Im Leben eines jeden Menschen kann das letzte Wort die Freude sein.

Auf der Basis dieser fünf – aus meiner Sicht biblisch gut begründbaren – Grundüberzeugungen seien im Folgenden acht Thesen, also acht Denk- und Gesprächsangebote zur möglichen Beantwortung der Theodizee skizziert.

Acht Thesen
1. Eine Theodizee, die im biblischen Zeugnis verwurzelt ist, muss davon ausgehen, dass ein einziger, unvorstellbar mächtiger und wesenhaft guter Gott existiert – und zwar trotz der Probleme, die mit dieser Grundüberzeugung einhergehen. Das problematisiert gleichzeitig jeden Lösungsansatz, der davon ausgeht, dass Gott nicht existiert, nicht mächtig oder nicht wesenhaft gut sei.
2. Weil Gott den Menschen als sein Ab-/Ebenbild und damit zu eigenverantwortlicher Freiheit erschaffen wollte, musste er ihm einen Lebensraum zur Verfügung stellen, der freie Entscheidungen möglich macht. Damit ist Gott das Wagnis eingegangen, dass sich der Mensch nicht nur für das Gute, sondern auch für das Böse entscheiden und damit Leid aller Art Tür und Tor öffnen kann. In diesem Sinne können Übel und Leid als Preis der Freiheit verstanden werden.
3. Natürliche Übel gründen weitgehend in der Beschaffenheit (bzw. in den Naturgesetzen) der Schöpfung; moralische weitgehend in der grundsätzlichen Gebrochenheit des Menschen, und zwar primär als Konsequenz – und also nicht als Strafe oder Sühne – der menschlichen Emanzipation von Gott. Und: Weil die menschliche Unabhängigkeitserklärung auch die natürliche Beschaffenheit der Schöpfung in Mitleidenschaft gerissen hat, kann das auch zu leidvollen Konsequenzen in Form natürlicher Übel führen.
4. Gott kann Leid im Sinne seines erzieherischen Handelns (Prüfung/Strafe) verwenden, um übergeordnete (und letztlich segensreiche) Ziele zu anvisieren. Sein letztes Ziel bleibt es, den Menschen als Gottes Ab-/Ebenbild auf dessen Weg durch die Zeit (persönlich, sozial und geistlich) so weit zu erneuern, dass er Gott in seiner gesamten Existenz immer ähnlicher wird. In diesem Sinne können Übel und Leid als Mittel verstanden werden, die letztlich einem weit übergeordneten Zweck dienen müssen.
5. Nicht jedes Übel und nicht jedes Leid dürfen und können funktionalisiert werden. In vielen Fällen bleibt die Frage unbeantwortet, warum der mächtige, wesenhaft gute und damit auch der gerechte und barmherzige, aber eben immer auch unfassbare und geheimnisvolle Gott Leid zulässt, und warum er nicht viel mehr in den Lauf der Welt eingreift, um^Leid zu minimieren. In diesem Sinne können Übel und Leid als ein Geheimnis verstanden werden, das in Gottes unfassbaren Wesen gründet.
6. Die Frage nach der Bedeutung oder einem allfälligen Zweck von Übeln und Leid kann im Einzelfall – wenn überhaupt – nur sehr vorsichtig beantwortet werden. Abstrahierte Lösungsansätze zur Theodizee (wie die hier genannten) mögen hilfreiche Deutungsmöglichkeiten anbieten, ohne aber den Anspruch erheben zu dürfen, dem leidenden Menschen in seiner immer individuellen Situation eine (mehr oder weniger) abschliessende Antwort sein zu wollen.
7. Wichtiger noch als die Frage nach der Herkunft und dem möglichen Sinn von Übeln und Leid mag die Frage nach einem angemessenen Verhalten im Leid sein. Menschen können im und am Leid zerbrechen, aber sie sind immer auch dazu eingeladen, in ihrem Leid und trotz ihres Elends mit ihrer ganzen Existenz auf Gott geworfen zu bleiben. Dies im Glauben daran, dass der barmherzige und mitleidende Gott ihnen in ihrem Leiden nahe ist und ihrem Weg einen bedeutenden Sinn verleihen kann und wird.
8. Übel und Leid müssen in der Existenz eines Menschen nicht das letzte Wort haben; wer sich in die Gemeinschaft mit dem einen Gott einladen lässt, wird nach seinem irdischen Sterben Teil von Gottes erlöster Welt sein; einer Welt, in der Übel und Leid keinen Raum mehr haben werden. Damit wird erlittenes Leid nicht ungeschehen gemacht, aber es mag sein, dass es im Raum der ewigen Welt und in der Gegenwart Gottes langsam verblasst und schliesslich für immer hinter dem Horizont einer vergangenen Zeit verschwindet.

Jenseits der Fragen
Elin lebt seit ihrem Geburtstag im Januar 2008 in Gottes ewiger Gegenwart. Ihre Eltern haben den Weg aus dem Abgrund der Trauer zurück ins Leben gefunden; die Welt ist wieder farbiger geworden, aber die Narben und die Fragen – ihre und die meinen – sind geblieben. Vermögen die oben notierten Gedanken zu helfen? Vielleicht.

Als Christ und Theologe habe ich (neben vielen anderen Gedanken) zwei Einsichten aus meinem Erleben mit Elin mitgenommen: Zum einen sollten wir nicht versuchen, anderen Menschen ihr Leid erklären zu wollen (vgl. das Buch Hiob in der Bibel); besser ist es, mit ihnen durchs Leid zu gehen. Zum anderen bietet uns die Bibel und hier ganz wesentlich das Neue Testament etwas an, was über unsere nagenden, irdischen, menschlichen Fragen hinausgeht: Hoffnung, und zwar begründete Hoffnung. Ich bin auf der Grundlage des Neuen Testaments überzeugt, dass die lange Nacht der Trauer zu Ende gehen wird – und der Trost der aufgehenden Sonne wird die Schöpfung in heilendes Licht tauchen und die letzte Wirklichkeit der Welt wird eine lange vergessene, unfassbare Freude sein.

Elins Vater, also mein Bruder, hat mich kürzlich gefragt, ob Elin ihn und ihre Mama in Gottes Welt erkennen werden würde. Meine Antwort: Oh ja, sie wird! Denn ich bin überzeugt, dass Christen Menschen sein dürfen, die eine Welt erhoffen, die zu grandios ist, um dereinst Realität werden zu können – und die eines Tages wie aus einem Traum erwachen und von Freude überrascht erleben werden, dass auch ihre verwegenste Hoffnung vor der himmlischen Herrlichkeit der neu geschaffenen Welt verblasst.

Und dazu gehören auch das Wiedersehen und das Feiern mit Elin.

 

Zur Person

Stefan Wenger, Dr. theol., verheiratet, drei erwachsene Kinder. Pfarrer der Landeskirchlichen Gemeinschaft jahu und Dozent an verschiedenen theologischen Ausbildungsstätten in der Schweiz.

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