Von Thomas Bänziger
«Ja, schlafe noch ein wenig, schlummere ein wenig … so wird dich die Armut übereilen» – damals gab es zwar noch keine Snooze-Taste, aber das Sprüchebuch weiss: Wer es zu etwas bringen möchte, muss morgens aufstehen. Zu Unrecht wird die Weisheit im Alten Testament eher stiefmütterlich behandelt (wir hören in unseren Kirchen relativ wenig über die Bücher Hiob, Sprüche, Prediger und Hohelied), denn sie ist hoch spannend und aktuell, wie obiges Beispiel zeigt.
In diesen Büchern werden ganz alltägliche Fragen gestellt, die alle Menschen beschäftigen, wie: Woher kommt das Leid? Wie pflegen wir einen gesunden Umgang mit Geld? Wie bewältigen wir die Kontingenz des Lebens, das, was uns im Leben so widerfährt? So finden wir im Sprüchebuch Aussagen, die sich mit der «Lehre des Amenemope» in Ägypten decken. Einerseits sind diese Themen kulturübergreifend wichtig.
Andererseits unterscheidet sich die Weisheit in der Bibel entscheidend von der Umwelt im Alten Orient. Der ägyptische Zentralbegriff für die Weisheit, «Maat», beschreibt beispielsweise eine Art Urordnung der Welt, die den Bestand der kosmischen und menschlich-sozialen Welt garantiert. Im Alten Testament gibt es kein abstraktes Prinzip, das die Welt zusammenhält und den Menschen Sicherheit gibt. Die Weisheit fragt immer zurück nach Gott, in dem sie letztlich begründet ist. So lautet das Motto: «Die Furcht des HERRN ist der Anfang der Erkenntnis.» Die ganze Erkenntnistheorie Israels besteht im Kern darin, «dass alle Erkenntnis des Menschen nach der Bindung an Gott zurückfragt» (Gerhard von Rad). Das bedeutet, dass wahre Weisheit nicht unabhängig von Gott, sondern nur in Beziehung mit ihm gefunden werden kann.
Hiob – warum lässt Gott Leid zu?
Werfen wir dazu einen Blick in die genannten weisheitlichen Bücher, die oft in poetischer Sprache verfasst sind. Hiob erfährt viel Leid im Leben, obwohl er Gottes Gebote stets beachtete. Weshalb lässt Gott dieses Leid zu? Eine Frage, die uns heute noch beschäftigt und zu den grossen theologischen Fragen der Moderne gehört. Das Hiobbuch besticht durch kunstvolle Sprache und Sensibilität, mit der das menschliche Leid untersucht wird.
Es gibt sumerische und babylonische Werke, die wir mit Hiob vergleichen können, denn die Frage nach dem Leid bewegte schon damals Menschen (der «babylonische Hiob» trägt auf Akkadisch den lustigen Titel «Ludlul bel nemeqi»). Auch in diesen Texten widerfährt Menschen grosses Leid, aber das Hiobbuch nimmt uns in seinen Schlussfolgerungen weiter: Gott führt Hiob durch alle schwierigen Prozesse hindurch, damit er eine tiefere Sicht auf ihn erhält. Mit Hiobs Worten: «Ich hatte von dir nur vom Hörensagen vernommen; aber nun hat mein Auge dich gesehen.» (Hiob 42,5)
Mehr als gute Anweisungen
Im Sprüchebuch ist der sogenannte «Tun-Ergehen-Zusammenhang » von Bedeutung. Die Weisheit versucht, dem Leben Gesetzmässigkeiten abzuringen: Was muss ich tun, um erfolgreich leben zu können? Es gibt tatsächlich gute Anweisungen zum Leben. Aber auch dem Sprüchebuch geht es um mehr als nur um das Befolgen von Gottes Anweisungen, der Tora. Die Weisheit wird in Sprüche 8 sogar als Person identifiziert. Die Kirchenväter haben, aus neutestamentlicher Sicht betrachtet, in dieser personifizierten Weisheit Jesus Christus gesehen.
Der Zusammenhang von Tun und Ergehen zerbricht oft im Leben. Darüber zerbricht sich Salomo, der Vater der Weisheit, der nicht nur Sprichwörter verfasste, im Predigerbuch (oder Kohelet) den Kopf: Oft geht es den Gottesfürchtigen nicht besser als den Menschen, die Gott nicht beachten. Kann das sein? Es ist der Blick «unter der Sonne», dieses Motto erscheint immer wieder in diesem Buch, das sich wie ein modernes Werk eines Existenzphilosophen liest. Am Ende kommt der Prediger aber angesichts des Sterbens auf die Gottesfurcht zu sprechen. Wir müssen tiefer schauen als nur auf das Vordergründige.
Der rote Faden
Auch das Hohelied, diese Sammlung von Liebesliedern zwischen König Salomo und seiner Geliebten Sulamit, wird als weisheitliches Buch eingeschätzt. Man sah darin neben profanen Liebesliedern auch eine allegorische Beschreibung der Beziehung zwischen Gott und Israel, zwischen Gott und uns Menschen. Die Weisheit in der Bibel zielt letztlich auf Beziehung, auf Liebe. Der Prediger sucht eine Frau, findet sie aber nicht. Im Sprüchebuch wird die Frau gefunden und im letzten Kapitel beschrieben. Im Hohelied wird sie geliebt.
Die drei salomonischen Schriften wurden mit der Stiftshütte, dem Zelt und Heiligtum, verglichen: Wie im Vorhof der Stiftshütte die Sonne leuchtet, so beschreibt der Prediger die Sicht unter der Sonne. Unsere natürliche Weisheit hat ihre Grenzen. Angesichts des Sterbens merken wir, dass es um mehr als nur dieses Leben gehen muss. Dazu müssen wir im Bild gesprochen ins Innere, ins Heiligtum eintreten, wo der siebenarmige Leuchter scheint. Das Sprüchebuch führt uns tiefer hinein: Wo wir Gott mit einbeziehen, erschliessen sich Geheimnisse im Leben. Aber die tiefste Form der Weisheit ist nicht Erkenntnis, sondern Liebe. Wie der innerste Raum der Stiftshütte «Heiliges der Heiligen» genannt wird, so heisst das Hohelied im Hebräischen das «Lied der Lieder». Das Hohelied bringt zum Ausdruck, dass die höchste Form von Weisheit darin besteht, Gott kennen und lieben zu lernen. Von Hiob bis zum Hohenlied sehen wir diesen roten Faden.
Es lohnt sich, einen Blick in diese spannenden Bücher zu werfen, denn die Weisheit im Alten Testament ist durch ihre Themen wie der Umgang mit dem Leiden oder das Bestehen in den alltäglichen Herausforderungen sehr praxisrelevant.