Von Alex Fröhlich im Interview mit Bodo Janssen
Wir streben seit Menschengedenken nach Wissen, Erkenntnis und Weisheit, philosophieren, sammeln, lesen, denken nach. Denn wir wollen weise leben und weise entscheiden. Wir sehnen uns nach Orientierung im Chaos. «Aber die Weisheit – wo ist sie zu finden?», fragte sich bereits Hiob in der Bibel. Ist sie eine Offenbarung, kommt sie automatisch im zunehmenden Alter, ist es eine Anhäufung von Wissen? Und wie unterscheiden sich eigentlich Wissen und Weisheit? Diesem Spannungsverhältnis gehen wir auf die Spur und unterhalten uns darüber mit Bodo Janssen, CEO einer Hotelgruppe und Autor. Er verrät uns, wofür es sich für ihn lohnt, jeden Tag aufzustehen, und was Weisheit mit Inspiration zu tun hat.
Wenn wir bei schwierigen Fragen und Entscheidungen nach gutem Rat suchen, dann wünschen wir uns eine Antwort, die irgendwie über die Nasenspitze hinausdenkt, das grosse Ganze sieht. Eine Antwort, die andere Menschen mitberücksichtigt, nicht selbstschädlich oder masslos ist oder schlicht eine neue Perspektive bietet. Und die passend, umsetzbar, inspirierend ist. Eine Antwort, die nicht nur ans Ich oder ans Sofort denkt – denn darauf kommen wir selber. Deshalb ist die gefragte Instanz – wie Eltern, Freundin, Suchmaschine, Influencer, Forum, Buch, Fachperson oder Guru – nicht irgendwer: Wir schätzen sie weiser als uns selbst ein. Sie schöpft aus bewährtem Wissen, das sie selber erlebt oder bitter erfahren hat, das sie gelesen, gehört, erforscht und vor allem durchdacht und durchlebt hat.
Wissen in Hülle und Fülle
Auf solches Wissen, auf ein reiches Erbe von Menschen mit ihren Erfahrungen, Entdeckungen und Gedanken, können wir heute zurückgreifen. In der Bibliothek von Alexandria wurde bereits in der Antike ein enormer Bestand an Wissen in Form von Schriftrollen gesammelt. Seit der Erfindung des Buches vereint und ordnet es die Menschheit in kompakten Nachschlagewerken, wie es Denis Diderot bis 1780 in einer der berühmtesten und umfangreichsten Enzyklopädien mit über 70 000 Artikeln tat. Spätestens mit der Gründung von Wikipedia 2001 steht gesammeltes Wissen in digitaler Form zur Verfügung. Und ChatGPT greift neustens umfangreich auf menschliches Wissen zurück, um die besten Antworten auf unsere Fragen zu liefern. Doch welche Antworten zu Lebensfragen sind weise und gut? Und können wir dem atemberaubenden Umfang, Zugriff und Tempo des zunehmenden Wissens mithalten – und wie können wir richtig filtern, abgrenzen, differenzieren? Um wahres Wissen wird gerungen, es verändert sich durch Forschung, es wird verfälscht durch Unfug und «Fake News». Und – Hand aufs Herz – beim Suchen von Wissen wollen wir oft doch nur eine Bestätigung unserer eigenen Überzeugungen.
Der Schlüssel ist die Umsetzung
Die Herausforderung für uns Menschen ist es wohl, aus der Fülle an Wissen das «weiseste Wissen» zu extrahieren. Viele Religionen und Kulturkreise haben eine reiche und tiefe Weisheitstradition und kluge Menschen, die Wissen in Weisheit transformierten. Philosophie, Theologie oder Kunst beschäftigen sich seit Urzeiten damit. Und bis heute ist sie ein Thema, wie Markus Spieker mit seinem kürzlich erschienen Buch «Jäger des verlorenen Verstandes» beweist, in dem er den wichtigsten Weisheiten aus allen Jahrtausenden nachjagt. Er definiert «weise» als Eigenschaft, die ausschliesslich wir Menschen haben können. Maschinen nicht, denn die können nur intelligent sein. Weisheit ist «organischer und ganzheitlicher Natur. Sie verbindet Rationalität mit Intuition, Kopf und Bauch, Individuen und Gruppen, Theorie und Praxis. Weisheit ist erfolgreich gelebtes Wissen.» (S. 13) Der Zusammenhang zwischen Wissen und Weisheit ist laut Spieker: die Umsetzung. Aber wie sieht es denn bei uns mit dem Annehmen und Anwenden von weisen Ratschlägen und mit dem Sichverändern- Wollen aus? Wie oft stolpern wir über unseren Stolz und schliessen unsere Ohren? Oder fühlen uns zu träge und wohl, um die Komfortzone der Veränderung zuliebe zu verlassen? Wie reagieren wir auf Gottes Reden, Gottes Ruf? König Salomo – bis heute weltbekannt für seine Weisheit – hat Gott um Hilfe und Wissen gebeten für seine Aufgabe als junger, unerfahrener König – und Gott schenkte ihm Weisheit. Salomo klopfte beim Schöpfer der Welt an, vertraute ihm, lernte dessen Perspektive einzunehmen. Salomo hat verstanden und schrieb es selbst: «Die Ehrfurcht vor Gott ist der Anfang der Weisheit.» (Sprüche 9,10) Wenn wir die Geschichte weiterlesen, stellen wir jedoch fest: Bei der Umsetzung dieses göttlichen Wissens war er genauso herausgefordert wie alle Menschen.
Bodo Janssen – von der Aversion zur Inspiration
Bodo Janssen, Jahrgang 1974, verheiratet, drei Kinder, ist CEO der ostfriesischen Hotelgruppe Upstalsboom. Der Betreiber von rund 70 Hotels und Ferienwohnanlagen übernahm das Unternehmen von seinem plötzlich verstorbenen Vater. Trotz finanziellem Erfolg liefen ihm zunächst Mitarbeitende aus Unzufriedenheit davon. Im Jahr 2010 führte er eine anonyme Mitarbeiterbefragung durch mit dem ernüchternden Resultat: Der Chef muss weg!
Bodo Janssen ging darauf ins Kloster zu Anselm Grün und liess sich inspirieren – persönlich und unternehmerisch. Seine Liebe zu Gott und dadurch die Liebe zu den Mitmenschen und sich selbst festigten sich. Daraufhin stellte er die Unternehmensphilosophie völlig um. Er fragte sich: «Ist der Mensch für die Wirtschaft da oder die Wirtschaft für den Menschen?» Er begann, den Menschen in den Mittelpunkt des Unternehmens zu stellen. Der Umgang untereinander veränderte sich, das Vertrauen ineinander wurde gestärkt – und die Fluktuation unter den Mitarbeitenden sank. Heute inspiriert der Chef von rund 650 Mitarbeitenden Menschen mit seinem weisen Lebens- und Führungsstil; und zwar nicht nur seine Mitarbeitende, sondern auch zahlreiche Leserinnen und Leser seiner Bücher über Themen wie Führung, Krisen oder Angst. Wir haben uns mit Bodo Janssen über die Weisheit unterhalten.
ERF Medien Magazin: Herr Janssen, wie gehen Sie vor, um Weisheit zu erlangen?
Bodo Janssen: Ich habe mir im Kloster etwas abgeschaut, was die Mönche praktizieren: Das ist die sogenannte «Lectio» – eine Technik, die mit Stille zu tun hat. Ich lese einen Text, das kann aus der Bibel sein, das kann ein mystischer Text sein, ein Text, der Weisheit in sich trägt, und wenn ich eine Passage dieses Textes gelesen habe, dann gehe ich in die Stille und lasse das, was ich gelesen habe, in mir wirken. Und wenn sich das Gelesene mit etwas verbindet, was ich in meinem bisherigen Leben erlebt oder gelebt habe, dann resoniert das und daraus entsteht eine Erkenntnis.
Welche Quellen der Weisheit sind für Sie nebst der Bibel wichtig?
Einmal die Regeln des Heiligen Benedikt, die ich täglich bearbeite. Ich lese, wie es im Kloster aufgeteilt ist, jeden Tag einen Vers und verinnerliche ihn. Dann aber auch aus den asiatischen Weltanschauungen. Aber mein Schwerpunkt liegt schon in den christlichen Glaubensbüchern, v. a. im Bereich der Wüstenväter, wie zum Beispiel Ephadrius Pontikus.
Wie würden Sie eine weise Person beschreiben?
Ich würde sage, wenn ich es mal ganz optisch sehe, dass dieser Mensch eine innere Ruhe und Gelassenheit ausstrahlt, Besonnenheit, Tiefe, Güte, Klarheit. Ich erinnere mich noch sehr gut an die erste Begegnung mit Anselm Grün und an den Blick in Anselms Augen, der so klar und so tief war und so voller Ruhe, Stärke und Kraft.
Inwiefern bezeichnet Ihr Umfeld, Ihre Mitarbeitenden und Ihre Familie Sie als weise?
Also das, was ich zurückgespielt bekomme – auch gerade gestern, als ich in unserem Hotel zu einer Zeit in Stille war – ist, dass sie Präsenz spüren, Authentizität und Ruhe. Das ist das, was mein Umfeld mir spiegelt. Es ist ja auch manchmal turbulent bei uns im Unternehmen und da sei es für die Mitarbeitenden nicht immer ganz begreiflich, wie ich diese Ruhe bewahre in jeder Situation.
Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen Wissen und Weisheit?
Ich denke: Wissen informiert, Weisheit inspiriert. Und das hängt für mich damit zusammen, dass die Weisheit zwar das Wissen beinhaltet, Wissen aber nicht Weisheit. Weisheit entsteht aus angewandtem Wissen. Das heisst, da kommt das Leben und das Fühlen dazu.
Wie stellen Sie sicher, dass Wissen nicht nur Wissen bleibt?
Wenn ich einen Menschen bewegen will, dann muss ich ihn berühren. Und berühren kann ich ihn nur mit dem, was mich selbst berührt hat. Das hat etwas für mich mit Resonanz zu tun. Dass also Weisheit eine tatsächliche Resonanz erzeugt in meinem Gegenüber. Ich erlebe das, wenn ich über einen Text referiere, dann sehe ich eine andere Reaktion bei den Menschen, als wenn ich die Geschichten erzähle, die ich selbst erlebt habe und aus denen ich eine Erkenntnis gewonnen habe.
Sie teilen selber auch viel Weisheit in Ihren Büchern. Was erhoffen Sie sich damit?
Ich habe über viele Jahre für mich herausgearbeitet, wofür es sich lohnt, jeden Tag aufzustehen. Es ist das, was mich erfüllt – und das ist, Menschen zu stärken. Wenn Menschen aus der Opferrolle heraus in die Selbstverantwortung finden, wenn sie aus der Angst heraus wieder ins Vertrauen finden, wenn Menschen die Fähigkeit entwickeln, sich den Herausforderungen zu stellen, anstatt vor ihnen zu flüchten. Das Ziel, was ich für mich formuliere, ist «Eudaimonie». Das ist ein Begriff aus der ethischen Philosophie und lässt sich übersetzen mit «innerer Zufriedenheit jenseits äusserer Faktoren». Oder anders übersetzt: das Leben lieben lernen. Egal, was das Leben mir beschert, ich möchte lernen, das Leben zu lieben. Ich glaube, dass es mit Menschen, die das für sich entdecken, einfacher zusammenleben lässt. Und um auf das Weisheitsthema zu kommen: Ich glaube, dass weise Menschen keinen Krieg führen. Da bin ich mir ziemlich sicher. Das ist das, was ich mir wünsche: diese innere Zufriedenheit, die auch für äusseren Frieden sorgt.
Was hat Weisheit für Sie mit Gott zu tun?
Der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski sagte einmal: «Einen Menschen lieben heisst, ihn so sehen, wie Gott ihn gemeint hat.» Für mich hängt das mit Weisheit zusammen, nämlich herauszufinden, wie Gott Menschen, also auch mich, gemeint hat. Ich habe Anselm Grün mal eine Frage gestellt, die ich sehr lange in mir herumgetragen habe, weil ich sie nicht getraut habe zu stellen: Was unterscheidet eure Suche nach Gott von meiner Suche nach mir selbst? Und er sagte: Gar nicht so viel, weil Gott drückt sich in dir aus, so wie er dich gemeint hat. Die Mönche sagen, der Weg zu Gott führt über die Selbsterkenntnis.
Vielen Dank für das Interview!