Von Sämi Müller
Hinter jedem Erfolg stecken auch Misserfolge. Wer erfolgreich sein will, muss sich mit Scheitern auseinandersetzen. Sämi Müller, Pfarrer der Chile Grüze in Winterthur und Mitgründer der Fails@church, lädt ein auf einen abenteuerlichen Weg rund um das Thema Scheitern. Er teilt einen seiner peinlichsten Momente mit uns und erzählt, was er daraus für sein Leben lernen konnte.
Extra-Schweissperlen
Beim Thema Scheitern kommt mir zwangsläufig einer der peinlichsten Momente meines Lebens in den Sinn: Alles begann mit der schönen Vorfreude auf eine Biketour! Das Wetter passt, der Routenbeschrieb ist ausgedruckt und die Ausrüstung ist bereit. Motiviert und gut gelaunt treffe ich mich mit einem Freund frühmorgens am Ausgangspunkt und wir starten in den harten Aufstieg. Da rasante Abfahrten verdient genossen werden wollen, werden auch die Extra-Schweissperlen in Kauf genommen.
Auch in unserer Wettbewerbsgesellschaft fällt der Erfolg niemandem in den Schoss. Da müssen oft Extra-Schweissperlen investiert werden. Selbstverständlich gehören auch Rückschläge zum Erfolg dazu. Man könnte sogar Scheitern als Chance zum Erfolg verstehen. Da wunderts auch nicht, wenn eigenes Versagen und Scheitern gerne schöngeredet wird. Nicht selten führen aufpolierte Lebensläufe letztendlich aber eher zur Rechtfertigung oder sogar Vertuschung der eigenen Fehler. Typischerweise lässt sich dieses Phänomen nach politischen Wahlniederlagen beobachten. In eine ganz andere Richtung gehen da die Eventformen, welche sich vor einigen Jahren in der Startup-Szene entwickelten. Was 2012 in Mexiko angefangen hat, gibt es mittlerweile auf der ganzen Welt. Die sogenannten «Fuckup-Nights».
Fuckup-Nights
Für einmal berichten Manager nicht von ihren Hochglanzkarrieren, sondern auf unterhaltsame und lehrreiche Weise von ihren Misserfolgen. Die Redezeit ist meist beschränkt, die Rednerinnen und Redner sind aus den unterschiedlichsten Sparten. Ein solcher Umgang mit Scheitern hat durchaus seine Berechtigung und Faszination. Was ist schon falsch daran, wenn man wegen ausbleibendem Erfolg bereits zu lange auf Applaus verzichten musste und nun Plattformen sucht, wo man wenigstens fürs heldenhafte Versagen die ersehnte Bestätigung bekommt? Umso schöner, wenn Zuhörende aus gemachten Fehlern lernen können. Deshalb bin ich überzeugt, dass solche Anlässe dazu beitragen können, eine Kultur des Scheiterns zu fördern. Ganz egal, ob das jetzt auf einer öffentlichen Fuckup-Bühne mit Publikum stattfindet oder in meinem ganz normalen Alltag. Wer zumindest im Rückblick über seine persönlichen Misserfolge berichtet oder auch mal lachen kann und diese nicht krampfhaft zu vertuschen versucht, wirkt zweifelsohne authentischer. Und ein bisschen mehr Nahbarkeit tut unserer wettbewerbsgetrimmten, auf Hochglanz polierten Welt ganz gut.
Sind wir noch auf Kurs?
Endlich, geschafft! Auf unserer Biketour haben wir das Gipfelkreuz erreicht, eine atemberaubende Aussicht und ein wohltuender Lunch lassen die Aufstiegsstrapazen schnell vergessen. Und die vielversprechende bevorstehende Abfahrt zaubert schon jetzt ein grosses Grinsen in unsere Gesichter. Also schnell zusammenpacken und losbrettern. Es ist traumhaft: Schmale Singletrails gespickt mit anspruchsvollen Passagen und einzelnen Jumps, genau nach meinem Geschmack! Mit der Zeit führt die Abfahrt in immer unwegsameres Gelände. Sind wir überhaupt noch auf Kurs? Mittlerweile wird unsere Abfahrtsfreude immer häufiger unterbrochen von Passagen, die uns dazu zwingen, die Bikes zu tragen. Unsere Route in dem unterdessen steil abfallenden Gelände gleicht immer mehr einem kaum benutzten Wildpfad.
Unbegründete Hoffnung scheint auch beim Umgang mit Scheitern oft der Fall zu sein. Hauptsache weitermachen, nur nicht anhalten. Sinnvoller ist, wenn wir in unserem Unterwegssein am Arbeitsplatz, in der Familie oder unseren Beziehungen regelmässige Stopps einlegen und mal fragen: Sind wir überhaupt noch auf Kurs? Braucht es Korrektur? Natürlich lässt sich Versagen und Scheitern nicht verhindern, nur weil wir regelmässig unser Sein und Tun reflektieren. Aber wir verhindern damit, plötzlich an einem Ort zu landen, der eigentlich gar nie unser Ziel war. Gerade beim eigenen Scheitern und Versagen einfach nur auf bessere Zeiten hoffen und weitermachen wie bisher, führt nicht selten zu grossen Verletzungen und Enttäuschungen. Auch wenn es unangenehm ist, einen Stopp einzulegen und sich mit dem eigenen Scheitern und Versagen auseinanderzusetzen, lohnt es sich. Denn wer will schon im Rückblick mal sagen müssen: «Gestern stand ich noch am Abgrund, heute bin ich einen Schritt weiter.»
Totaler Schiffbruch
Als wir auf unserer Biketour endlich eindringlicher die Karte studieren, bestätigt sich definitiv: Wir haben uns so richtig verfahren! Wir haben mehrere Abzweiger verpasst und sind die letzten zwei Stunden in ein Gebiet ohne Strassen und Wege vorgedrungen. Und jetzt alles retour? Zu spät, der Tag neigt sich bereits dem Ende zu. Wir beschliessen, uns ohne Bikes noch ein Stück weiter zu bewegen. Doch schon nach ein paar hundert Metern finden wir uns vor einem unüberwindbaren Felssturz. Mit dem Untergehen der Sonne sinken auch die Temperaturen und wir ahnen, dass diese Biketour ein anderes Ende als erwartet nehmen wird.
Leider gibt es Scheitern, welches mit einer Endstation zu vergleichen ist. Eine Abfolge von mehreren Ereignissen, die einen handlungsunfähig zurücklassen. Diese Art von Scheitern ist nicht begrenzt auf Zeit oder einen bestimmten Lebensbereich. Es ist viel grundsätzlicher, mutiert zu einer Lebenskrise und macht auch nicht Halt vor sozialer Isolation und Verlust des Lebenssinnes. Der Beizer, der Privatkonkurs anmelden muss. Seine Frau, die ihn zeitgleich verlässt. Seine Kinder und Freunde distanzieren sich zunehmend. Schlussendlich verliert er auch noch die Wohnung und findet sich beim stadtbekannten Alkoholikerbänkli wieder. Zu konstruiert? Es sind genau diese Tragödien, die wir hören, wenn wir uns mal die Zeit nehmen, uns tatsächlich auf so ein Bänkli zu setzen und zuzuhören. Inwiefern das Scheitern dieser Menschen selbstverschuldet ist oder nicht, spielt gar nicht mehr so eine Rolle. Man hat totalen Schiffbruch erlebt, alleine ist kein Herauskommen mehr. Übrigens: Im Wort Schiffbruch gründet die Bedeutung von Scheitern. Das imposante Holzschiff zerschellt an der Brandung, was übrig bleibt sind einzelne Scheiter.
Rettung aus der Gefahrenzone
Zurück zu unserer Biketour. Nach gründlichem Abwägen entscheiden wir uns schweren Herzens, die Rega zu kontaktieren. Wie peinlich! Zaghaft erklären wir unsere Situation und versuchen zu beschreiben, wo wir ungefähr feststecken. Am anderen Ende nichts von Vorwürfen, sondern Bestätigung für die Richtigkeit unseres Entscheides anzurufen. Das ganze Gebiet sei mit keinem einzigen Weg erfasst, an ein Weiterkommen nicht zu denken. Bergung aus der Gefahrenzone ist jetzt angesagt. Wie beruhigend und tröstlich eine so verständnisvolle Stimme sein kann! Bald darauf vernehmen wir rotierende Propellergeräusche, Hilfe naht!
Via Handy und Direktschaltung zum Piloten lotsen wir den Heli in unsere Nähe, bis sie uns entdecken und den Bergretter an einer Seilwinde herunterlassen können. Dieser sichert uns und erklärt das weitere Vorgehen. Unter anderem müssten wir die Bikes wohl hierlassen und zu späterem Zeitpunkt via SAC über die Felswand bergen lassen. Okay, Hauptsache wir sind noch unversehrt. Und schon hakt der Bergretter uns an der Seilwinde ein und der Heli fliegt uns ins Tal.
Scheitern für Fortgeschrittene
Ebenfalls als Rettung aus der Gefahrenzone könnte man die Geschehnisse rund um Jesus bezeichnen, insbesondere natürlich in der Passionsgeschichte. Diese beinhaltet quasi die theologische Sicht des Scheiterns. Denn auf den ersten Blick scheiterte dieser Galiläer kläglich am Kreuz. Die von vielen erwartete Befreiung aus der römischen Unterdrückung erwies sich als Träumerei und endete jäh am Kreuz. Da hing sie nun, die ersehnte Erwartung auf Veränderung. In Form einer blutüberströmten, leidenden Figur, mit dem eigenen Tod ringend mit der schlussendlich totalen Kapitulation: «In deine Hände gebe ich meinen Geist.»
An diesem tiefsten Punkt der Geschichte liegt aber auch der eigentliche Turnaround. Jesus erwacht drei Tage später von den Toten zum Leben und macht damit ein für alle Mal klar: Mir ist alle Macht gegeben. Am Kreuz ist Jesus mit und für all mein Versagen und Scheitern gestorben. Genau genommen hat auch mein persönliches Scheitern, sei es noch so kleinlich oder tiefschürfend, diesen Jesus ans Kreuz genagelt. Aber Er hat es freiwillig hingenommen. Durch seine Auferstehung haben wir heute eine Adresse, wo wir mit all unserem Versagen und Scheitern hinkönnen. Bei Ihm darf ich meine Zielverfehlungen ungeschönt bekennen und erleben, wie Er mir vergibt und mich wieder aufrichtet. Viele biblische Geschichten untermalen dies eindrücklich. Beispielsweise nachdem Petrus Jesus verleugnete, lesen wir davon, wie Jesus unmittelbar nach seiner Auferstehung die Frauen am Grab beauftragt, sogleich die Jünger und Petrus über Seine Auferstehung zu informieren. Ich bin überzeugt, dass Jesus hier Petrus explizit erwähnt, weil Er die Kämpfe, Schmerzen und Enttäuschungen sieht, die Petrus rund um sein Scheitern bewegten.
Wenn es denn ein «Scheitern für Fortgeschrittene » gibt, dann lässt sich dies bei Jesu Umgang mit Gescheiterten und insbesondere bei seinem eigenen Leiden, Sterben und Auferstehen finden. Dank Jesu Umgang mit dem Scheitern brauche ich heute meine versiebten und unschönen Geschichten weder künstlich aufzupolieren, noch zu bagatellisieren oder zu ignorieren.
Peinlich!
Aber was hat das alles jetzt mit einem der peinlichsten Momente meines Lebens zu tun? Tja, nachdem der Helikopter uns mittels Seilwinde aus der Gefahrenzone gehievt hat, setzt er uns unten im Tal auf einer Wiese ab und schwenkt wieder davon, um den Bergretter zu holen. Da sitzen wir nun. Ganz in der Nähe heuen ein paar Männer auf der Wiese. Logisch eilen sie herbei und fragen mit einer Mischung aus Sensationsgier und bestürzter Anteilnahme: «Was ist passiert? Gibt es Verletzte?» Ich will nur noch im Boden versinken oder wünsche mir, tatsächlich verletzt zu sein. Aber das sind wir nicht. Also antworte ich ganz leise: «Nein, wir haben uns nur verfahren.» Just in dem Moment kommt auch noch der Helikopter mit dem Bergretter an der Winde angeflogen. Und was hat er dabei? Zwei Bikes …
Vorwärtsstolpern
Unsere Gesellschaft, die Sünde immer weniger versteht, kann mit dem Thema «Scheitern» viel mehr anfangen. Wir scheitern am Leistungsdruck, Beziehungen erleiden Brüche, Ziele zerschellen an der Brandung. Wie heilsam, wenn dann statt Vorwürfen, Ab- und Beurteilungen einfach mal verständnisvoll und mitfühlend zugehört wird. In solcher Atmosphäre ist Raum für gegenseitiges Lernen, miteinander Lachen und auch mal ein «Link» zum Überwinder des Scheiterns schlechthin. Eine Möglichkeit für solche Räume bietet die sogenannte fails@church. Drei unterschiedliche Stories des Versagens aus katholischem, reformiertem und freikirchlichem Kontext werden in je 15 Minuten präsentiert, dazwischen gibt es genug Zeit für Austausch und Anteilnahme.
Übrigens, ich habe noch nie so schnell in die Pedale getreten, wie nach dem Ausfüllen des Rapports vom Bergungseinsatz. Selbstverständlich ist es mit Peinlichkeiten, Scheitern und Zielverfehlungen nicht nur bei dieser Biketour geblieben.
Ich vergleiche mein Unterwegssein oft mit Vorwärtsstolpern. Doch lange genug geübt, könnte es für andere wie Tanzen aussehen. Ich wünsche uns, dass wir mutig auch mal von unseren Misserfolgen berichten. Kann gut sein, dass andere davon profitieren und unsere hochglanzpolierte Welt etwas nahbarer wird. Ich wünsche uns, dass wir immer wieder mal Stopps einlegen und unseren Kurs überprüfen. Ich wünsche uns offene Augen und Ohren, um «havarierte Schiffe» aus ihrer Not zu retten. Und vor allem wünsche ich uns, dass wir durch Jesus erleben, wie Scheitern für Fortgeschrittene aussieht. Lasst uns Vorwärtsstolpern üben, bis es nach Tanzen aussieht!